Auf der Suche nach der "griechischen" Dimension des Islam

Abdelwahab Meddeb gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen Denkern Nordafrikas. Sein Buch "Die Krankheit des Islam" löste innerhalb der islamischen Welt, aber auch in Europa heftige Debatten aus. Beat Stauffer hat mit ihm gesprochen.

Abdelwahab Meddeb; Foto: dpa
"Die heutigen Islamisten halten sich für geistige Zeitgenossen des Propheten, dabei sind sie in Wirklichkeit amerikanisiert, ohne dass sie es merken; und ihre geistige Situation könnte schlimmer nicht sein."

​​Ihr neues Buch "Contre-prêches" enthält 115 Reflexionen über aktuelle Themen wie die Attentate von Madrid und die Frage des Schleierverbots in Frankreich, aber auch Betrachtungen über Weltliteratur, Gastfreundschaft oder über die "Freiheit des Körpers". Weshalb nennen Sie Ihr Buch "Gegen-Predigten"? Wollen Sie damit ein Gegengewicht schaffen zu den Fernsehauftritten konservativer muslimischer Prediger, die weltweit Beachtung finden?

Abdelwahab Meddeb: Genau so ist es. Es geht mir darum aufzuzeigen, dass es vielleicht Möglichkeiten gibt, Elemente aus der islamischen Tradition aufzugreifen; Elemente, die eine Art Gegengift zum Gift des religiösen Fundamentalismus darstellen können und die dem Prinzip des Lebens gehorchen und nicht dem düsteren, lebensfeindlichen Geist fundamentalistischer Predigten.

Haben Sie für dieses neue Buch eine neue, leichter zugängliche Form gewählt, die potenziell ein größeres Publikum als "Die Krankheit des Islam" ansprechen könnte?

Meddeb: Es ist zuerst einmal einfach eine andere Form. Der Ausgangspunkt meines neuen Buchs waren wöchentliche Kolumnen, die ich drei Jahre lang für Radio Medi 1 in Tanger verfasst hatte.

Der Titel "Die Krankheit des Islam" - aber auch die in dem Buch vertretenen Thesen - dürften viele gläubige Muslime vor den Kopf gestoßen haben. Hatten Sie keine Bedenken, dass Sie bei einer derart provokativen Wortwahl viele Muslime gar nicht erreichen könnten?

​​Meddeb: Ich muss vorausschicken, dass dieses Buch in 16 Sprachen übersetzt worden ist - unter anderem auch ins Arabische und Türkische. Ich habe in der Tat intensiv darüber nachgedacht, ob der Titel auf Arabisch unverändert beibehalten werden könnte. Schließlich entschied ich mich für den Titel "Die Illusionen des politischen Islam". Das Buch ist gelesen worden, und es hat vielleicht gewissen Menschen geholfen, sich neu zu orientieren.

Es geht mir letztlich darum, meine Religion, den Islam, auf ähnliche Weise zu kritisieren, wie Nietzsche dies seinerzeit mit dem Christentum getan hat. Viele Menschen wissen heute nicht mehr, dass es im Islam im 9. und 10. Jahrhundert kritische Stimmen gegeben hat, die noch um einiges radikaler waren als die heutigen Kritiker.

Sie wenden sich in den zwei erwähnten Büchern vehement gegen Islamisten aller Schattierungen. Gleichzeitig nehmen Sie aber auch die Traditionalisten ins Visier, etwa die Professoren der berühmten Al-Azhar-Universität in Kairo.

Meddeb: Das enorme Problem des Islam besteht gerade darin, dass der Islamismus versucht, seine Botschaft in alle Richtungen zu verbreiten. Der offizielle Islam, der eine Art letzte Metamorphose des traditionellen Islam ist, wird heute zunehmend von islamistischem Gedankengut durchsetzt und vergiftet.

Dabei war der traditionalistische Islam seit dem 19. Jahrhundert in einer sehr interessanten Entwicklung begriffen. Es war ein Wille zu spüren, sich an die Bedingungen der Zeit anzupassen und dafür entsprechende Konzepte zu entwickeln. (...)

Doch heute ist diese Denkart im Verschwinden begriffen; und um dem Islamismus entgegenzutreten, hat der traditionelle Islam eine Strategie eingeschlagen, die darin besteht, einen Teil der islamistischen Botschaft zu übernehmen. Dadurch ist er selber erstarrt, rigide geworden.

Ihre Kritik an den Islamisten - vor allem an denjenigen, die von Europa aus wirken - ist äußerst virulent ...

Meddeb: Das stimmt. Ich empfinde eine extreme Abneigung gegenüber diesen Gruppierungen und dem, was sie darstellen, und wenn ich sie auf europäischem Boden sehe, dann sage ich mir: Gut, das gehört eben zur Freiheit in demokratischen Gesellschaften. Doch gleichzeitig möchte ich vor diesen Bewegungen warnen.

Ein Teil der Europäerinnen und Europäer (...) dürften Ihren Ausführungen kaum folgen. Diese vertreten die Ansicht, dass es eben zur individuellen Freiheit gehört, den Schleier oder gar den "Niqab" zu tragen. Verkennen diese Zeitgenossen die wahre Natur der Islamisten?

Meddeb: Ich weiß es nicht. Mir scheint, bezüglich des Multikulturalismus müssten wir vorsichtig sein. Natürlich ist es sehr wichtig, dass wir uns in Europa mit anderen Kulturen und deren Werten auseinandersetzen. Doch der Multikulturalismus ist kein Ort, wo jeder tun und lassen kann, was er will. Es darf nicht sein, dass die grundlegenden Werte verschwinden. Wir müssen genau hinsehen, was die Dinge bedeuten. Der Schleier ist ein Zeichen. Was bedeutet dieses Zeichen? Wenn dieses Zeichen gegen meine eigenen Werte verstößt, weshalb soll ich dann dieses Zeichen akzeptieren?

Sie haben sich auch sehr kritisch bezüglich der Integration der Muslime in Europa geäußert. Können Sie das ausführen?

Meddeb: Mir scheint, dass die Islamisten eine Strategie betreiben, die darin besteht, die europäischen Rechtssysteme zu unterlaufen. Gleichzeitig versuchen sie immer mehr, das islamische Recht in Europa einzuführen. Das ist meiner Ansicht nach schwerwiegend, weil es sich dabei um zwei vollkommen inkompatible Rechtssysteme handelt. Wenn dies weitergeht, werden wir uns bald in der äußerst schwierigen und konfusen Situation befinden, die für zahlreiche islamische Länder charakteristisch ist.

Sie raten der islamischen Welt, sich von Europa und dessen zivilisatorischen Errungenschaften "befruchten" zu lassen, um aus ihrer tiefen Krise herauszufinden.

Meddeb: Genau das haben viele Muslime in der Vergangenheit gemacht, und einige tun es heute noch. Diese Denkströmung scheint aber im Moment in der islamischen Welt in der Defensive zu sein. Doch ich glaube nicht, dass es eine endgültige Niederlage ist; es handelt sich vielmehr um eine Pendelbewegung.

Fundamentalismus, Integrismus bedeutet für mich letztlich die Suche nach der Reinheit, und in der Konsequenz werden alle "fremden" Elemente abgelehnt.

Wenn Sie aber alle fremden Elemente aus dem entfernen, was die islamische Zivilisation ausmacht, dann bleibt davon nicht mehr viel übrig; denn die gesamte islamische Zivilisation beruht auf der Übernahme und der Anverwandlung von Elementen, die von außen gekommen sind: Ohne die persischen, die indischen, die griechischen Beiträge hätte es keine islamische Zivilisation gegeben.

Das lässt sich auf die heutige Zeit übertragen. All diese Fundamentalisten, die von der "Reinheit" träumen und keine "fremden" Elemente wollen, die überdies meinen, sie seien die Geistesverwandten des Propheten von Medina, befinden sich in einem großen Irrtum: Denn wenn man sich die beiden Hauptmoscheen von Medina und von Mekka, der heiligsten Stätten des Islam, genauer anschaut, dann lässt sich leicht feststellen, dass beide Moscheen der "Nicht-Ästhetik" von Disneyland entsprechen.

Die heutigen Islamisten halten sich für geistige Zeitgenossen des Propheten, dabei sind sie in Wirklichkeit amerikanisiert, ohne dass sie es merken; und ihre geistige Situation könnte schlimmer nicht sein.

​​Interview: Beat Stauffer

© Beat Stauffer 2007

Beat Stauffer lebt als freier Publizist in Basel. Sein Schwerpunktgebiet ist die islamische Welt und insbesondere der Maghreb.

Abdelwahab Meddeb: Contre-prêches. Chroniques. Edition Le Seuil, 2006. Die deutsche Übersetzung wird Ende August 2007 beim Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg, erscheinen.

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