Viele konkurrierende Stimmen

Imame haben einen großen Einfluss auf die in der Bundesrepublik lebenden Muslime. Sie erstellen auch Rechtsgutachten, so genannte Fatwas, und geben so den Muslimen in bestimmten Lebenssituationen Verhaltensregeln.

Heiner Kiesel informiert.

Imame; Foto: Bildmontage/ picture alliance, dpa
Islamische Rechtsgutachten in Deutschland unterscheiden sich teils deutlich von denen aus muslimischen Ländern. Das liegt mitunter in der Natur der Rechtsgutachten, weil sie als Einzelfallentscheidungen angelegt sind.

​​Seit Jahren wird über die Ausbildung von Imamen in Deutschland diskutiert. In den Moscheen gibt es Tausende dieser islamischen Gelehrten, die aber zu 90 Prozent aus der Türkei, vereinzelt aus Marokko oder dem Iran stammen.

Diese Imame sprechen häufig kein Deutsch und sind auch nicht mit den politischen, sozialen und kulturellen Verhältnissen im Land vertraut. Genau das fordern jedoch viele Politiker, aber auch in Deutschland lebende Muslime.

Fatwas nach bestem Wissen und Gewissen

Hierzu meint Ferid Heider, der in Berlin aufgewachsen und Imam an zwei Berliner Moscheen ist: "Jeder Muslim kann selbst entscheiden, wen er sich als Autorität nimmt." Also sei er als Imam und Muslim nicht verpflichtet, sich an die Fatwas etwa der Al-Azhar-Universität in Kairo zu halten, einer der bedeutendsten Bildungseinrichtungen der islamischen Welt, noch an irgendein Gelehrtengremium.

Seine Aufgabe sei es hingegen, nach bestem Gewissen und Wissen zu handeln, betont Heider. Dementsprechend passe er seine Ratschläge als Imam dem deutschen Alltag an. Eine Fatwa, so betont er, solle sich immer auf einen konkreten Fall und seine Umstände beziehen.

Heider erläutert, er werde in seinen Gemeinden oft danach gefragt, welches Verhalten für einen Muslim erlaubt oder verboten sei. Der deutsche Alltag sei für Muslime nicht ohne Konflikte: Gebets- und Arbeitszeiten passten oft nicht zusammen, die Töchter sollten zum Schwimmunterricht in die Schule, im Restaurant werde Alkohol ausgeschenkt.

Moschee in Essen; Foto: dpa
Eine Fatwa ist eine kontextgebunde Fallentscheidung. Jedoch versuchen einige islamische Gelehrte in der arabischen Welt mit Fatwas über das Internet Einfluss auf das religiöse Leben der Muslime in Europa zu nehmen.

​​Der Imam höre sich die Probleme an, suche im Koran und in der Überlieferung vom Leben des Propheten Mohammed nach Rat. Auf Grund dieser Quellen erteile er dann ein islamisches Rechtsgutachten.

Für die Fatwas, die in Europa erstellt werden, schließt Heider daraus: "Dementsprechend brauchen wir islamische Gelehrte in Europa, die entweder hier aufgewachsen sind oder zumindest schon längere Zeit in Europa gelebt haben."

Nur wer die politische, soziale und ökonomische Situation vor Ort genau kenne, könne adäquate Rechtsgutachten erstellen. Das sei, so glaubt Heider, eine der wichtigsten Herausforderungen für die hier lebenden Imame.

Wie sieht eine Fatwa in Deutschland aus?

Islamische Rechtsgutachten in Deutschland unterscheiden sich teils deutlich von denen aus Ländern mit muslimischer Mehrheit. Das liege in der Natur der Rechtsgutachten, weil sie als Einzelfallentscheidungen angelegt seien, stellt die Islamwissenschaftlerin Bettina Gräf vom Zentrum Moderner Orient in Berlin klar.

Trotzdem gehe ihre Bedeutung weit über den Einzelfall hinaus. Hier gelte der bekannte Spruch: "Alles, was nicht verboten ist, ist prinzipiell erlaubt. Und daraus versucht man natürlich zu schöpfen und den Rahmen auszuschöpfen, den man hat." Fatwas seien, so betont Gräf, ein Dreh- und Angelpunkt für eine wie auch immer geartete islamische Identität, die gerade seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts in Europa und Amerika unglaublich wichtig geworden sei.

Argwöhnischer Blick auf Europa

Viele Rechtsgelehrte in traditionell-islamischen Ländern sehen die neue islamische Rechtspraxis in Europa hingegen mit Sorge. Diese Muftis befürchten, dass ihre Glaubensbrüder vom "rechten Weg abkommen" und schließlich dem Islam verloren gehen könnten. Um das zu verhindern, erklären sie - ebenfalls durch islamische Rechtsgutachten - was sie für das Leben eines Moslems in Europa für richtig und angemessen halten.

Den Erlanger Juraprofessor und Experten für Islamisches Recht, Mathias Rohe, beunruhigen diese Fatwas aus der Ferne. Damit wähle ein Mufti sich dann eine Frage aus, auf die er gerne eine Antwort geben möchte. Das sei zum Teil eine, wie er meine, sehr bedenkliche Entwicklung, die vor allem aus Saudi Arabien komme.

Dorther kämen Vorgaben, wie Muslime sich hier in Europa positionieren, nämlich möglichst abgrenzen und sich auf keinen Fall mit der aus ihrer Sicht ungläubigen Welt verbrüdern sollten.

In Saudi-Arabien gebe es in höchsten Positionen Menschen, die sehr gezielt versuchten, den Islam in Europa auf ihre wahhabitische Linie zu trimmen. Das halte er für eine außerordentlich gefährliche Entwicklung, betont Rohe.

Strukurelle Eigenheiten des Islam

Moschee in Duisburg; Foto: AP
Vor allem seit den 90er Jahren sind in Europa und in den USA Fatwas äußerst wichtig geworden, da sie den Dreh- und Angelpunkt für islamische Identitäten darstellen, so Bettina Gräf

​​Der Islam ist eine Religion ohne eine oberste Autorität. Eine etwa dem Papst vergleichbare Position gibt es nicht. So konkurrieren viele Meinungen um das Gehör der Gläubigen: Der Imam der nächstgelegenen Moschee, die renommierte Al-Azhar-Universität, prominente Fernsehscheichs und überregionale Fatwa-Gremien. Muslimische Extremisten finden sich in den Fatwas bestätigt wie auch Verfechter eines friedlichen Miteinanders der Konfessionen.

Auch die islamischen Organisationen der Muslime in Deutschland versuchten, ihre Gläubigen auf ihre Grundsätze zu verpflichten, denn die religiöse Meinungsvielfalt auf individueller Ebene verringere die Aussicht, erfolgreich als Gruppe aufzutreten, sagt Burhan Kesici, Generalsekretär des Islamrates für die Bundesrepublik Deutschland.

Dies könne seiner Meinung nach in Deutschland und in Europa wichtig dafür werden, inwiefern man muslimische Gesprächspartner auch ernst nehmen könne. Sonst bestehe die Gefahr, dass abgewinkt werde – mit der Begründung, dass jeder Muslim für sich selber verantwortlich sei und dementsprechend keiner im Namen der Muslime reden könne.

Eine gemeinsame islamische Organisation könnte die Glaubenspositionen des Einzelnen sehr wohl beeinflussen, bekräftigt Kesici. Zudem würde die Möglichkeit geschaffen, Mitglieder mit extremistischen oder stark abweichenden Ansichten auszuschließen.

Heiner Kiesel

© DEUTSCHE WELLE 2009

Qantara.de

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