Stoppt die Übertreiber!

Für den saudischen König ist Frauenpolitik Chefsache. Jetzt hat sein ehemaliger Erziehungsminister ein Buch geschrieben, das für die Gleichstellung von Mann und Frau plädiert. Die Debatte nimmt Fahrt auf. Von Joseph Croitoru

Pilgerin ohne Gesichtsschleier liest im Koran am Berg Arafat; Foto: dpa
Die Frau künftig in der Rolle der Religionsvermittlerin in Saudi-Arabien? Ohne Gesichtsschleier liest eine Pilgerin am Berg Arafat im Koran

​​ Saudi-Arabien ist vor kurzem als Mitglied in den Exekutivrat der neuen Frauenorganisation der Vereinten Nationen ("UN-Women") gewählt worden. Die Entscheidung stieß zwar bei westlichen Menschenrechtlern auf Bedenken, im Ursprungsland des Islam sieht man darin jedoch die Anerkennung der bisherigen frauenpolitischen Reformbemühungen.

Tatsächlich ist in Riad einiges in Bewegung gekommen. Ein Zeichen dafür ist das Buch des früheren saudischen Erziehungsministers Muhammad Ahmad al-Rashid, es heißt "Die muslimische Frau zwischen gerechter Behandlung durch die islamische Religion und den Auslegungen der Übertreiber".

Veröffentlicht hat al-Rashid, der zwischen 1996 und 2005 das rigide Erziehungssystem Saudi-Arabiens zu modernisieren begann, seine Schrift zwar nicht in seiner Heimat. Aber die Publikation im relativ liberalen Beirut hat binnen kürzester Zeit dafür gesorgt, dass das Werk in der gesamten arabischen Welt von sich reden macht.

Dazu beigetragen haben auffälligerweise sowohl die internationale saudi-arabische Zeitung "Al-Sharq Al-Awsat" wie das einheimische saudische Regierungsblatt "Al-Watan". Beide widmeten dem Buch, dessen provokante Thesen sie als willkommene Anregungen zur Debatte begrüßten, ausführliche Besprechungen. In der Tat nimmt al-Rashid bei seiner Parteinahme für die Gleichstellung der Frau kein Blatt vor den Mund.

Aufhebung der öffentlichen Geschlechtertrennung?

Als "Minderheitsposition" beurteilt er die Auffassung jener "Übertreiber" unter den Religionsgelehrten, die Musliminnen nicht nur das Kopftuch, sondern auch den Gesichtsschleier vorschreiben. Dass mit "Übertreibern" etliche dem saudischen religiösen Establishment verbundene Rechtsgelehrte gemeint sind, verleiht dieser Aussage besondere Brisanz, zumal sie sich mit der aktuellen Entwicklung im wahhabitischen Staat deckt, die so manche Überraschung birgt.

So sorgte kein Geringerer als König Abdallah selbst für eine Sensation, als er sich vor einigen Monaten inmitten einer Gruppe einheimischer Frauenaktivistinnen, von denen kaum eine den Gesichtsschleier trug, fotografieren ließ.

Die historische Aufnahme fand über "Al-Sharq Al-Awsat" besonders in der islamischen Welt enorme Verbreitung. Sie wurde, neben der damit angedeuteten halboffiziellen Ablehnung einer totalen Verschleierung, auch als implizite Zustimmung des Monarchen zu einer weiteren Frage bewertet, in der al-Rashid eine eindeutige Position bezieht: die Aufhebung der vom saudischen Staat verordneten und streng überwachten Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit.

Das Recht auf Bildung

König Abdullah; Foto: dpa
Betrachtet die Reform der Frauenpolitik als Chefsache: Saudi-Arabiens Monarch König Abdullah

​​ So fordert der Ex-Erziehungsminister einen gemischten Schul- wie Universitätsunterricht und regt sogar an, auch über den Sinn der Sitte nachzudenken, die Frauen beim Gebet in der Moschee in die hinteren und seitlichen Bereiche der Gotteshäuser zu verbannen - Ausdruck einer Gleichberechtigung ist dies aus seiner Sicht jedenfalls nicht.

Wenn al-Rashid zudem ausdrücklich auf das Recht der muslimischen Frau auf Bildung pocht, so ist dies als Teil der Modernisierungspolitik zu sehen, die er selbst in den ersten Jahren nach den Anschlägen des 11. September 2001 unter internationalem Druck vorangetrieben hat und die in Saudi-Arabien immer weiter Gestalt annimmt.

Dahinter steht der König selbst, der die Reform der Frauenpolitik als Chefsache betrachtet, weshalb er im Frühjahr 2009 die Pädagogin Nura al-Faiz zur ersten weiblichen Vize-Ministerin ernannte - sie ist im Erziehungsressort für die Mädchenerziehung zuständig.

Die energische Kämpferin hat mittlerweile nicht nur durchgesetzt, dass Frauen Führungspositionen in der bislang ausschließlich von Männern beherrschten Verwaltung der Mädchenschulen übernehmen sollen.

Tabuthema Sportunterricht für Mädchen

Nura al-Faiz , Foto: dpa
Zeichen der moderaten Modernisierung und Stärkung der Frauenrechte: Die Pädagogin Nura al-Faiz wurde 2009 zur ersten weiblichen Vize-Ministerin ernannt.

​​ Auch hat sie jüngst beim Besuch eines Trainingslagers von Schülerinnen, die sich auf verschiedene Jugendolympiaden vorbereiten, verkündet, sie könne sich vorstellen, eine von ihnen künftig als Ministerin zu sehen. Ihre These erregte in den saudischen und arabischen Medien großes Aufsehen.

Soweit bekannt, wurde die stellvertretende Ministerin für diese Äußerung ebensowenig kritisiert wie für ihre kürzlich gegenüber indischen Gästen abgegebene Erklärung, Sportunterricht für Mädchen - ein absolutes Tabuthema - sei in Saudi-Arabien denkbar, die Gesellschaft müsse allerdings erst darauf vorbereitet werden.

Von den gelegentlichen Protesten der Erzkonservativen über die in der Öffentlichkeit nicht immer vollständig verschleiert auftretende Vize-Ministerin zeigt sich die königliche Herrscherfamilie unbeeindruckt.

Wohin der Trend geht, offenbarte dieser Tage etwa die Titelseite des Blatts "Al-Jazirah" vom 16. November. Dort prangte das Foto eines jungen Pilger-Paars, das am heiligen Berg Arafat in das Studium des Koran, vertieft auf einem Stein sitzt - und es ist die Frau, wohlgemerkt ohne Gesichtsschleier, die das heilige Buch hält und dem Mann daraus vorträgt.

Dass die Bildunterschrift ihre Rolle als Religionsvermittlerin betont, ist kein Zufall. Künftig will die Regierung die Zahl der Frauen, die die Pilger religiös betreuen, erheblich erhöhen.

Joseph Croitoru

© Qantara.de 2010

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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