"Muslime im Westen müssen sich einbringen"

Amr Khaled ist einer der bekanntesten Fernsehprediger der arabischen Welt. Über Satellitensender und Internet, mit seinen Büchern, Kassetten und CDs erreicht er Millionen Muslime. Im Qantara-Interview mit Christoph Dreyer erklärt er, was Glaube und praktisches Engagement zur Integration von Muslimen in westliche Gesellschaften beitragen können.

Amr Khaled; Foto: Menassat.com
"Ich setze mich dafür ein, die Jugend positiv zu beeinflussen, und das ist der erste Schritt zur Demokratie", erklärt Amr Khaled.

​​Der gebürtige Ägypter Amr Khaled hat zwar keine theologische Ausbildung, aber dafür mehr religiösen Einfluss in der arabischen Welt als viele traditionelle islamische Gelehrte. Der "islamische Billy Graham" arbeitete als Buchhalter, bis er seinen Aufstieg zum populären Prediger begann. Aus dem religiösen Mainstream sticht er schon äußerlich durch perfekt sitzende Anzüge, aber auch durch alltagsnahe Themen wie Liebe und Flirten heraus, die er stets zum Vorbild des Propheten Mohammed rückkoppelt. Seine Kritiker werfen ihm wahlweise vor, er stehe für einen weichgespülten "Islam light" oder sei bloß ein Konservativer in modernem Gewand. Khaled selbst hält dagegen, er stelle die Grundwerte des Islam in den Mittelpunkt und mache deutlich, dass innerhalb dieses weitgesteckten Rahmens viel Raum für flexible Interpretation bleibe. In den vergangenen Jahren hat er sich zunehmend international engagiert, indem er etwa während des Karikaturen-Streits eine arabisch-dänische Jugendbegegnung organisierte und sich öffentlich gegen religiösen Extremismus stellte. Er lebt heute im britischen Birmingham.

Herr Khaled, als ein Hauptproblem dieser Weltregion haben sie den Mangel an Bildung benannt. Warum soll dann die Religion die Lösung darstellen?

Amr Khaled: Wir sprechen über den Glauben, weil das die Sprache ist, die die Menschen im Nahen Osten verstehen und mit der man sie motivieren kann. Es gibt viele Wege, Menschen zu motivieren, und ohne Motivation werden sie nicht aktiv. Deshalb muss man in jedem Teil der Welt herausfinden, womit man die Menschen motivieren kann. Wenn ich in einer anderen Weltgegend arbeiten würde, wäre das vielleicht Sport oder Kunst. Im Nahen Osten ist der Glaube die Sprache, in der man Menschen motivieren kann, unsere Länder und unsere Zukunft aufzubauen, Zukunftsvisionen zu entwickeln und Entwicklung zu schaffen. Meine Rolle besteht also darin zu zeigen, wie der Glaube konstruktiv sein kann, statt zum Extremismus zu führen.

Sie haben sich den Glauben also bloß als das beste verfügbare Werkzeug ausgewählt?

Khaled: Genau. Wenn ich die Muslime hier in Europa motivieren wollte, wäre vielleicht gar nicht der Glaube die erste Wahl, weil er womöglich nicht das Wichtigste für sie wäre. Für sie könnte Sport oder Kunst das Wichtigste sein - aber tatsächlich ist es der Glaube.

Palästinensische Schulklasse; Foto: AP
"Im Nahen Osten ist der Glaube die Sprache, in der man Menschen motivieren kann, unsere Länder und unsere Zukunft aufzubauen, Zukunftsvisionen zu entwickeln und Entwicklung zu schaffen", meint Amr Khaled.

​​Womit kann man Araber und Muslime hier in Europa am besten zur Integration motivieren?

Khaled: Indem man ihnen die Möglichkeit gibt, etwas für die Gesellschaft zu tun, denn sie gehören ja dazu. Man bekommt etwas und muss auch etwas geben - das kann Motivation schaffen. Zu sehen, welche Bedürfnisse die Gesellschaft hat, und womit man sich Respekt erarbeiten kann. Vielleicht ist Respekt hier der Schlüsselbegriff zur Motivation.

Sie betonen den Glauben als positiven Faktor. Aber arabische Jugendliche im Westen haben oft ein negatives Image, gerade wenn sie ihren Glauben hervorheben. Was können sie tun, um respektiert zu werden und etwas zu ihrer Integration beizutragen?

Khaled: Wir müssen passende Projekte finden. In Großbritannien veranstalten wir zum Beispiel ein Fußballturnier, bei dem jede Mannschaft aus jeder Stadt aus Muslimen und Nichtmuslimen bestehen muss. Dieses Turnier hat viel für die Integration getan. Wir müssen uns über Projekte Gedanken machen, in die die Jugendlichen ihre Energie stecken können, um etwas für eine bessere Zukunft zu tun.

Speziell in Ägypten werden Sie kritisiert, weil Sie dazu beigetragen hätten, dass dort heute so viele Frauen Kopftuch tragen. Der Vorwurf lautet also, dass Sie für einen sehr konservativen Islam stehen. Wie soll das der Integration dienen?

Khaled: Das stimmt so nicht, denn ich habe mich viel damit beschäftigt - und das Kopftuch gehört nicht dazu - wie man dem Gemeinwesen in unseren Ländern dienen kann, wie man positiv in der Gesellschaft wirken und Träume für die Zukunft seines Landes haben kann. Was bedeutet Glauben denn? Er bedeutet, etwas aufzubauen und sich zu entwickeln. All das habe ich getan. Viele Wohltätigkeitsorganisationen aus aller Welt haben sich an mein Jugendnetzwerk Life Makers gewandt, um mit ihm etwas aufzubauen - Mikrokredit-Projekte, Anti-Drogen-Programme, Umweltschutzprojekte. Ich rede also nicht bloß, sondern ich unternehme etwas, und das sagt mehr über mich aus als irgendwelche Kritik. Manche Leute fragen, was denn der Unterschied zwischen mir und den Traditionalisten sei. Der Unterschied ist, dass ich handle und nicht nur über Koexistenz rede.

Verschleierte Frauen in Ägypten; Foto: AP
Verschleierte Frauen in Ägypten: "Ich weigere mich, die Rolle der Frau auf den Hidschab zu begrenzen. Ich weigere mich, den Respekt gegenüber einer Frau davon abhängig zu machen, ob sie den Hidschab trägt oder nicht", erklärt Amr Khaled.

​​Dennoch: Finden Sie es positiv oder negativ, dass heutzutage zum Beispiel in Ägypten viel mehr Frauen das Kopftuch (Hidschab) tragen als vor zehn Jahren?

Khaled: Der Hidschab gehört zum Islam. Aber ich weigere mich, die Rolle der Frau auf den Hidschab zu begrenzen. Wer behauptet denn so etwas? Im Koran geht es um diese Frage nur in zwei Versen - und in vielen anderen Versen um die Rechte der Frau. Ich weigere mich, den Respekt gegenüber einer Frau davon abhängig zu machen, ob sie den Hidschab trägt oder nicht, oder zu behaupten, das Eine sei gut und das Andere schlecht. Ein Teil der Frauen in meinem Team trägt keinen Hischab, und ich arbeite mit ihnen zusammen. Ich respektiere Frauen ohne Hidschab. Ich bin dagegen, die Frauen nach dieser Frage einzuteilen. Ja, der Hidschab gehört zum Islam, aber man sollte ihn nicht in den Mittelpunkt stellen und den Eindruck vermitteln, dass ich Frauen ohne Hidschab ausschließe - das stimmt nicht.

Was raten Sie Musliminnen, die im Westen leben? Sollten sie den Hidschab tragen oder nicht?

Khaled: Frauen in Europa müssen ihre Gesellschaft respektieren. Auch wenn sie den Hidschab tragen, müssen sie Teil der Gesellschaft sein, das Land lieben und sich dafür engagieren. Sie müssen sich einbringen und zum Beispiel für Deutschland etwas tun.

Jugendliche aus Einwandererfamilien in einem Pariser Vorort; Foto: AP
Vorort von Paris: "Respekt ist der Schlüsselbegriff zur Motivation für die Integration von Muslimen", sagt Khaled.

​​Was können umgekehrt die westlichen Gesellschaften tun, um offener für Muslime zu sein?

Khaled: Wir müssen Projekte zur Zusammenarbeit finden und Muslime, die etwas für ihre Gesellschaft tun und damit als Vorbilder dienen können. Die müssen wir den Muslimen zeigen, damit wir Möglichkeiten schaffen, wie sie sich für ihre Gesellschaft einsetzen können. Aber ich habe etwas dagegen zu sagen: "Die Anderen müssen etwas für uns tun". Wir als Muslime müssen den Anfang machen und daran glauben, dass wir dieses Land lieben. Wir als Muslime müssen Projekte und Partner finden.

Ihre Arbeit setzt sich nach Ihren eigenen Worten aus mehreren Phasen zusammen: zuerst einer Rückkehr zur Spiritualität, dann Entwicklung und dann Koexistenz...

Khaled: Meine Arbeit ist wie ein Puzzle, das aus drei Teilen besteht. Die Koexistenz ist nötig, weil wir ohne westliche Partner mit ihrem Wissen keinen Erfolg haben werden. Koexistenz ist also nötig, Entwicklung ist nötig, Glaube ist nötig, und das alles bildet ein Puzzle oder eine Kette. Es geht darum, die Jugend im Nahen Osten positiv zu beeinflussen und vom Extremismus fernzuhalten.

Müsste ein weiteres Teil dieses Puzzles nicht die Politik sein?

Khaled: Das hängt davon ab, was Sie unter Politik verstehen. Wenn Sie von Parteien und Wahlen sprechen: Das ist nicht meine Rolle. Aber wenn Sie sich ansehen, was ich zu politischen Fragen beitrage - ja, das gehört dazu. Ich setze mich dafür ein, die Jugend positiv zu beeinflussen, und das ist der erste Schritt zur Demokratie. Ich bin also politisch aktiv, aber auf meine Weise. Ich muss es nicht auf Ihre Weise tun.

Interview: Christoph Dreyer

© Qantara.de 2010

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

Qantara.de

Religiöse Fernsehsender in der arabischen Welt
Showtime für TV-Prediger
Religiöse Fernsehsender erfreuen sich im arabischen Raum zunehmender Beliebtheit: In den vergangenen zehn Jahren starteten 60 bis 80 islamische TV-Satellitensender, die allesamt den "wahren" Islam verkünden wollen. Hintergründe von Mona Sarkis

Yusuf al-Qaradawis Haltung zu religiösen Minderheiten
Gelehrte Intoleranz
Mit seinen Anfeindungen gegen religiöse Minderheiten in der islamischen Welt und seinen Pauschalurteilen über das muslimische Leben in Europa schadet der islamische Gelehrte und Fernsehprediger Yusuf al-Qaradawi dem Dialog und der interreligiösen Verständigung. Ein Kommentar von Khaled Hroub

Integrationsdebatte
Der Islam ist nicht die Lösung
Es wäre falsch, sich in Fragen der Integration nur auf muslimische Verbände zu stützen. Zwar haben religiöse Initiativen Einfluss. Aber die säkularen Verbände sind wichtiger. Von Götz Nordbruch