Furcht vor Differenziertheit im Glauben

Seit langem bemühen sich die Aleviten in der Türkei um Anerkennung als Religionsgemeinschaft und wehren sich gegen den staatlich verordneten Religionsunterricht. Als Folge ihrer anhaltenden Proteste wollen sich die Parteien jetzt stärker ihrer Interessen annehmen. Aus Istanbul berichtet Günter Seufert

Aleviten bei einer Zeremonie in einem Gebetshaus in Istanbul; Foto: AP
Die Aleviten machen rund 15 Prozent der Bevölkerung der Türkei aus, seit langem fordern sie die Anerkennung ihres Glaubens.

​​Wer in der Türkei Schlagzeilen machen will, der spricht am besten Dinge aus, die anderswo inzwischen ganz selbstverständlich sind.

"Der Religionsunterricht muss freiwillig sein", sagte in der ersten Dezemberwoche Nihat Ergün. Für Aufsehen sorgte der Satz deshalb, weil Ergün stellvertretender Fraktionsvorsitzender der allein regierenden Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) von Recep Tayyip Erdogan ist.

Zwar redet die AKP gern von Freiheit der Religion, doch meist nur dann, wenn es um die Freiheit des Kopftuchs an den Universitäten geht. Beim verpflichtenden Religionsunterricht jedoch versteckte die Partei sich bisher hinter der türkischen Verfassung, die sie sonst so scharf kritisiert.

Befreiung vom staatlichen Religionsunterricht

Gegen den Zwangsunterricht in Religion wenden sich seit Jahren fast alle Aleviten. Zu dieser in sich stark gespaltenen religiösen Gemeinschaft gehören circa 15 Prozent der türkischen Bevölkerung. Ihre Begriffe und Symbole stammen aus dem schiitischen Islam, der Kult ist folkloristisch-anatolisch geprägt, doch die Theologie erinnert an die Gnosis.

Im sunnitisch geprägten Religionsunterricht wurde der Glaube der Aleviten bis zum Jahre 2005 in keiner Weise behandelt. Schließlich war das Resultat hunderter von Prozessen für die Befreiung alevitischer Kinder vom Religionsunterricht, von denen einige sogar den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg beschäftigten, dass das neue Curriculum erstmals offiziell von Aleviten spricht.

Freilich nicht so, wie sich das die Aleviten vorgestellt haben. Der Unterricht stuft die mindestens zehn Millionen zählende Religionsgemeinschaft zu Mitgliedern eines mystischen Ordens im Islam herab. In den Unterrichtsempfehlungen für die Lehrer heißt es, dass die Lehre der Aleviten "eine von Menschen gemachte" und damit unzulängliche Interpretation des wahren Glaubens darstellt, welche auf keinen Fall "mit dem Islam selbst gleichzusetzen ist".

Abkehr vom "wahren Glauben"

Ob Zwangsunterricht im Fach Religion oder die Anerkennung ihrer Gebetshäuser, den Cemevi, ob Ausbildung der alevitischen Geistlichkeit oder Vertretung in der staatlichen Religionsbehörde – in Ankara stießen die Aleviten mit ihren Forderungen in den letzten 25 Jahren stets auf taube Ohren. Zwar machten regelmäßig vor den Wahlen alle Parteien gern Versprechungen, doch wurden die Probleme der Religionsgemeinschaft nie ernsthaft behandelt und gelöst.

Für die Mehrzahl der Türken – und für ihren Staat – bedeutete die Überzeugung der Aleviten lediglich eine Verirrung und Abkehr vom "wahren Glauben" und ein Einfallstor für linksradikale Ideologien. Die offizielle Republik Türkei, die so häufig vom Schutz des Laizismus gegen den politischen Islam redet, fürchtet sich gleichzeitig vor jeglicher Differenziertheit im Islam.

Religionsunterricht in einer Schulklasse in Stuttgart; Foto: AP
In einigen Bundesländern Deutschlands wird alevitischer Religionsunterricht angeboten. Schätzungsweise 500.000 Aleviten leben in Deutschland.

​​Der Durchbruch gelang den Aleviten im Ausland. In einigen Bundesländern Deutschlands etwa, wo die Aleviten einen Teil der türkischen Migranten stellen, wird zu Beginn dieses Schuljahres das Alevitentum unterrichtet – und zwar als eigenständige Lehre innerhalb des Islams.

Dies ist in Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen der Fall. Auch in Hamburg kommt das Alevitentum in der allgemeinen Religionskunde vor, und in Berlin gibt es schon seit fünf Jahren alevitischen Religionsunterricht.

Der Druck auf die Türkei hat sich auch noch dadurch erhöht, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Oktober 2007 der Türkei bescheinigt hatte, dass der staatliche sunnitisch geprägte Religionsunterricht eine kritische Distanz zur Religion vermissen lasse. Er verletze die Rechte von Atheisten und Agnostikern und er beschneide außerdem das Recht der Eltern, ihre Kinder im Einklang mit den eigenen Überzeugungen zu erziehen.

Widerstand gegen "religiöse Eingemeindung"

Die AKP von Erdogan verhielt sich den Aleviten gegenüber anfangs noch reservierter als andere Parteien in der Türkei. Doch der Druck der EU, die seit Jahren eine Lösung dieses Konfliktes fordert, der eigene politische Diskurs in punkto Religionsfreiheit sowie liberale Stimmen innerhalb der eigenen Partei führten schließlich dazu, dass Erdogan im Januar 2008 erstmals einen Schritt auf die Aleviten zuging.

Von Gleichberechtigung und einem gesonderten Religionsunterricht war damals freilich nicht die Rede, dafür viel von Gemeinsamkeiten der Aleviten und Sunniten und davon, dass das Trennende eigentlich nicht so wichtig sei.

Aleviten bei einer Zeremonie in einem Gebetshaus in Istanbul; Foto: AP
Im März 2009 stehen Kommunalwahlen in der Türkei an. Die Parteien machen nun den Aleviten Versprechungen, um ihre Wählerstimmen für sich zu gewinnen.

​​Verärgert reagierten die meisten Aleviten auf diesen Versuch einer "religiöser Eingemeindung". Unterschriftenkampagnen und Sitzstreiks für die Abschaffung des verpflichtenden Religionsunterrichts kumulierten schließlich Anfang November in einer zentralen Protestveranstaltung, auf der in Ankara 50.000 Menschen gegen den Zwangsunterricht und für die Anerkennung alevitischer Gebetshäuser sowie die Abschaffung der staatlichen Religionsbehörde demonstrierten.

Im März 2009 finden Kommunalwahlen statt, die Republikanische Volkspartei (CHP) verspricht erstmals die Anerkennung der Gebetshäuser, und selbst die rechtsnationale MHP will sich der Aleviten annehmen.

Mit der Option eines "freiwilligen Religionsunterrichts sowie einer gesonderten Unterweisung für die Kinder von Aleviten", will die Partei von Erdogan sich jetzt aufs Neue an die Spitze der Bewegung stellen. Wenn die Reform wirklich erfolgreich umgesetzt würde, wäre dies gewiss beispielhaft für die Demokratie in der Türkei. Denn die Aleviten waren bislang stets friedlich und drohten niemals mit dem Einsatz von Gewalt.

Wenn ihre dauerhaften Bemühungen um Anerkennung letztlich doch zum Erfolg führen sollten, würde dies auch anderen religiösen Minderheiten und Bewegungen neue Hoffnung verleihen.

Günter Seufert

© Qantara.de 2008

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