Wie der Westen die Muslime islamisiert

Wer in Westeuropa lebt und einen muslimischen Hintergrund hat, wird von den Regierungen gern auf seine religiöse Identität reduziert. Dabei definieren sich viele Zuwanderer gar nicht über ihre Religion. Ihre falsche Behandlung hat fatale Folgen, wie der amerikanische Historiker Philip Jenkins in seinem Essay zeigt.

Wer in Westeuropa lebt und einen muslimischen Hintergrund hat, wird von den Regierungen gern auf seine religiöse Identität reduziert. "Die Muslime" gelten als sozial problematische Gruppe. Dabei definieren sich viele Zuwanderer gar nicht über ihre Religion. Ihre falsche Behandlung hat fatale Folgen, wie der amerikanische Historiker Philip Jenkins in seinem Essay zeigt.

Symbolbild Muslime in Europa; Foto: dpa/DW
Allen europäischen Muslimen das eine starre Etikett "Islam" zu verpassen fördert ein Gefühl supranationaler religiöser Identität, was dem Ziel der Assimilierung zuwiderläuft, meint Jenkins.

​​Den meisten Europäern ist klar, dass die Einwanderung ihre Gesellschaften verändern wird. Uneins sind sie darüber, wie radikal diese Veränderung ausfallen wird.

Eine extreme Position vertrat jüngst der Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams, der erklärte, die Einführung einiger Teile der Scharia als paralleles Rechtssystem sei in Großbritannien "unvermeidlich".

Tatsächlich steht etwas Elementares auf dem Spiel: Schaffen europäische Regierungen in ihrem Versuch, auf ein "Islam-Problem" zu reagieren, nicht Gemeinschaften, die viel muslimischer sind, als sie es sonst wären?

Religiöse Identität nicht ausschlaggebend

Gewiss, ein erheblicher Teil der Bevölkerung Europas stammt aus traditionell muslimischen Gesellschaften. Wahrscheinlich sind es etwa 24 Millionen insgesamt, 4,6 Prozent der europäischen Gesamtbevölkerung also. Wie viele sich religiös oder ethnisch in erster Linie als Muslime verstehen, wissen wir aber nicht.

In jeder Gesellschaft stehen den Menschen viele Identitäten zur Wahl. Klasse, Kultur, Nationalität, Region, Rasse, Geschlecht, sexuelle Orientierung und Generationszugehörigkeit können dabei wichtiger sein als Religion. Nur weil sich viele Deutsche als Christen beschreiben, heißt das nicht, dass ihre religiöse Identität alle anderen Identitäten übertrumpfte. Das Gleiche gilt für Muslime.

Seit den 70er-Jahren sind Menschen mit muslimischem Hintergrund immer wieder an prominenter Stelle in Berichten über soziale Probleme, Verbrechen und Unruhen, Gewalt und Armut in vielen europäischen Städten aufgetaucht.

Fauen mit Kopftuch warten in Duisburg an einer Bushaltestelle; Foto: AP
In jeder Gesellschaft stehen den Menschen viele Identitäten zur Wahl. Klasse, Kultur, Nationalität, Region, Rasse, Geschlecht und Generationszugehörigkeit können dabei wichtiger sein als Religion.

​​Doch müssen wir diese Probleme nicht in religiöse Begriffe fassen. Normalerweise nämlich bedeutet das Wort Muslim in diesem Kontext bloß: "Mitglied einer ethnischen Gemeinschaft, die erst vor ziemlich kurzer Zeit aus Ländern Afrikas oder Asiens, in denen der Islam die vorherrschende Religion ist, nach Europa gekommen ist".

Dass Muslime sehr häufig die Erfahrung der Arbeitslosigkeit machen, in armseligen Unterkünften leben oder hasserfüllt einer Polizei, die sie schlecht behandelt, gegenüberstehen, sagt nichts über ihre religiösen Bräuche oder Überzeugungen aus.

In muslimischen Gegenden Großbritanniens grenzen sich Menschen pakistanischer Herkunft nicht gegen Christen oder Ungläubige ab, sondern gegen Weiße. Viele französische Muslime wiederum verstehen sich zuvörderst als Schwarze.

Die Medien lernten die Sprache der Intifada

Mag die Erinnerung daran heute auch schwerfallen, so haben die europäischen Nationen doch erst vor etwa sieben Jahren damit begonnen, soziale Unruhen in religiöse statt in ethnische Begriffen zu fassen.

In den 80er-Jahren haben französische und britische Städte wiederholt unter Gewalt gelitten, und viele der Randalierer hatten einen muslimischen Hintergrund. Dennoch war stets von Ausschreitungen unter "Einwanderern" die Rede, nie von religiösen Zusammenstößen.

Als es im Sommer 2001 zu Unruhen im Norden Großbritanniens kam, waren viele der Randalierer Pakistani oder Bangladescher. Trotzdem spielten religiöse Zuschreibungen während der Unruhen, die von ethnischen Konflikten und Unmut über die Polizei ausgelöst wurden, kaum eine Rolle. Dem offiziellen Bericht zufolge handelte es sich vielmehr um "die schlimmsten ethnisch motivierten Unruhen der letzten 15 Jahre in Großbritannien".

Aufstand in den französischen Banlieus; Foto: AP
Französische Behörden reagierten auf einen Mob städtischer Randalierer, als stünden sie einem muslimischen Aufstand gegenüber.

​​ Nur ein paar Jahre später jedoch reagierten französische Behörden auf einen Mob städtischer Randalierer, als stünden sie einem muslimischen Aufstand gegenüber. Der Hauptunterschied zwischen Großbritannien 2001 und Frankreich 2005 war, dass in der Zwischenzeit der 11. September die Aufmerksamkeit auf einen vermeintlichen Kampf der Religionen und Kulturen gelenkt hatte.

Die Medien lernten die Sprache der Intifada und hielten nach Gelegenheiten Ausschau, sie auch in Europa zu gebrauchen. Fast über Nacht wurden die sozialen Probleme Europas so zu religiösen.

Um der Gefahr von Unruhen und sozialer Spaltung zu begegnen, haben europäische Regierungen verständlicherweise versucht, Beziehungen zu Gruppen und Verbänden aufzubauen, die für die muslimische Bevölkerung zu sprechen behaupten.

Oft jedoch sind diese Organisationen viel frommer und orthodoxer als die Menschen, für die sie zu sprechen vorgeben, und viele von ihnen sind in emanzipatorischen oder sexuellen Fragen reaktionär. Wo Regierungen bestimmte geistliche oder religiöse Gruppen als offizielle Sprecher ihrer Gemeinschaften anerkennen, behandeln sie ganz alltägliche Menschen als Mitglieder religiös-kultureller Kollektive, die ihre Rechte als Mitglieder dieser Gruppen haben, nicht als Staatsbürger oder Individuen.

Rassen- oder Klassenkonflikte werden zu religiösen Problemen

Überdies werden Menschen mit muslimischem Hintergrund nun per definitionem als Muslime gesehen, wobei ihnen unterstellt wird, auf Geheiß religiöser oder geistlicher Autoritäten zu handeln. Obwohl diese Unterstellung den Tatsachen zunächst nicht entsprechen mag, könnte es mit der Zeit dahin kommen.

Die Medien befördern diesen Prozess, indem sie über ethnische Gemeinschaften einzig aus der Perspektive religiöser Führer berichten, die naturgemäß ihre eigenen Pläne verfolgen. Rassen- oder Klassenkonflikte werden so zu religiösen Problemen. Und auch die Minderheiten selbst neigen zunehmend dazu, ihre Klagen in religiöse Begriffe zu kleiden.

Um von ihren sozialen und politischen Ansichten erst gar nicht zu reden: Europas Muslime stehen für eine Vielfalt religiöser Praxis. Ihnen allen das eine starre Etikett "Islam" zu verpassen fördert ein Gefühl supranationaler religiöser Identität, was dem Ziel der Assimilierung zuwiderläuft und zudem den religiösen Führern in diesen Gemeinschaften zu neuen Weihen verhilft. Könnten muslimische Fundamentalisten es zu ihrem eigenen Vorteil besser eingerichtet haben?

Aus dem Englischen von Wieland Freund

© Philip Jenkins 2008

Philip Jenkins ist Historiker an der Pennsylvania State University. Sein Buch "Gottes Kontinent? Über die religiöse Krise Europas und die Zukunft von Islam und Christentum" erscheint bei Herder.

Qantara.de

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