Keine Alternative zu Staat und Herrschaft

Warum gab es in den vergangenen Jahrzehnten unter den arabischen Intellektuellen keine oppositionelle Persönlichkeit wie Andrej Sacharow? Diese Frage stellt sich der Politikwissenschaftler und Nahost-Experte Amr Hamzawy.

Warum gab es in den vergangenen Jahrzehnten, in denen die modernen arabischen Gesellschaften durch totalitäre Machtsysteme geprägt waren, unter den arabischen Intellektuellen keine Persönlichkeit wie Andrej Sacharow? Diese Frage stellt sich der Nahost-Experte Amr Hamzawy.

Foto: privat
Der ägyptische Politikwissenschaftler Amr Hamzawy fordert einen "arabischen Sacharow"

​​Es ist eine Tatsache, dass wir uns in der arabischen Diskussion daran gewöhnt haben, die Krise der Intellektuellen ausschließlich mit verschiedenen Faktoren aus der Umgebung des Einzelnen zu erklären.

Für die Verhinderung eines gesellschaftlichen Wandels sind demnach einerseits die Herrschaftssysteme, die freies Denken und kreatives Potenzial unterbinden, und andererseits die traditionellen Institutionen der Stämme und des Patriarchats verantwortlich.

Obwohl die Kritik an den totalitären Herrschaftssystemen und überkommenen Traditionen im Kern zutrifft, ist sie in ihrer Darstellung teilweise unredlich. Sie stellt nur eine Seite der Medaille dar, während sie die andere Seite – die Sichtweise der arabischen Intellektuellen auf ihre eigene Stellung und die Grenzen ihrer Bedeutung - vernachlässigt.

Die Tatsache aber, dass es z.B. in den Gesellschaften des ehemals sozialistischen Blocks keine Demokratie gegeben hat und kritische Stimmen aggressiv verfolgt wurden, hat nicht dazu geführt, dass sich Ohnmachtgefühle und eine defätistische Sicht auf das intellektuelle Leben breit gemacht haben.

Im Osteuropa gab es Widerstand trotz Repression

Vielmehr entstanden, besonders seit Mitte der Siebzigerjahre Strömungen des Widerstandes, die einen gesellschaftlichen Wandel forderten. Darunter waren Gruppen von Dissidenten, Verfechter des zivilen Ungehorsams, Literaturzirkel sowie die "neuen sozialen Bewegungen". Viele Intellektuelle beteiligten sich an den Aktivitäten für einen demokratischen Wandel, der zu Beginn der Neunzigerjahre schließlich einsetzte.

Die in den arabischen Veröffentlichungen verbreitete Interpretation des Widerstandes im osteuropäischen Sozialismus , geht überwiegend von verschwörerischen Tendenzen und einer zentralen Bedeutung der amerikanischen und westeuropäischen Unterstützung kritischer Strömungen in Osteuropa während des Wandels aus.

Dieser Interpretation entgegen steht eine sachliche Analyse, die verdeutlicht, dass ein entscheidender Faktor dabei vor allem die Fähigkeit der Intellektuellen war, den Widerstand fortzusetzen – obwohl die Herrschaftssysteme erbarmungslos Druck ausübten und mit anderen gesellschaftlich Aktiven strategische und dynamische Allianzen bildeten.

Paradebeispiel Sacharow

Der Westen intervenierte nicht, wenn Intellektuelle im Gulag inhaftiert und gefoltert wurden. Diese waren auch keine Agenten der USA, die ihre Heimatländer verraten hätten. Die Biografie des russischen Physikers Andrej Sacharow (1921-1989) bestätigt die Richtigkeit dieser Sichtweise.

Der berühmte Wissenschaftler, der die sowjetische Atombombe unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg mitentwickelt hatte, und dem die meisten Ehrentitel des ehemaligen Sowjetreiches zugesprochen worden waren, begann Anfang der Sechzigerjahre, politische Reformen zu fordern.

Er unterstützte 1968 den Prager Frühling und bekannte sich durch Hungerstreiks öffentlich zu den Reihen des Widerstandes, so dass er 1976 den Friedensnobelpreis erhielt, den er jedoch nicht persönlich entgegennehmen konnte.

Symbol des demokratischen Widerstandes

Nachdem er 1980 von den sowjetischen Behörden verhaftet worden war, wurden ihm alle Titel aberkannt. Man verbannte ihn nach Gorki, von wo aus er weiterhin auf verschiedenen Wegen mit anderen Dissidenten Kontakt hatte und kritische Artikel verfasste, in denen er einen demokratischen Wandel forderte.

Gorbatschow, der letzte Präsident der Sowjetunion, hob die Verbannung 1986 schließlich auf, und bis zu seinem Tod 1989 war er ein Symbol für den demokratischen Widerstand.

Sacharow ist kein Einzelfall. Er reiht sich unter all jene Intellektuelle ein, die im Bündnis mit anderen gesellschaftlichen Kräften Widerstand leisteten und sich erfolgreich für die Durchsetzung eines demokratischen Wandels ihrer Regierungssysteme einsetzten.

Großes Vakuum in den arabischen Ländern

Leicht drängt sich deshalb die legitime Frage auf, weshalb es in den letzten sechs Jahrzehnten, nachdem sich, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in den arabischen Gesellschaften totalitäre Regime herausgebildet hatten, in unseren Reihen keinen Sacharow gegeben hat.

Damit meine ich nicht bloß die Existenz kritischer Stimmen unter den Intellektuellen, die zu Demokratie und Fortschritt aufrufen. Mit Sicherheit gibt es in der arabischen Welt solche rhetorischen und analysierenden Stimmen.

Vielmehr suche ich nach jenen, die dazu imstande sind, ihrer Kritik Taten folgen zu lassen, sie auf realer Ebene umzusetzen. Allerdings finde ich hier, abgesehen von einer kleinen Minderheit, die den Richtungen des politischen Islam angehören, nur ein großes Vakuum vor.

Ist der Versuch, das Gedachte in die gesellschaftliche Realität zu übertragen, ungeachtet des möglichen Erfolges oder Misserfolges, nicht eines der fehlenden Bindeglieder zwischen unseren unerschütterlich totalitären Gesellschaften und den Gesellschaften Osteuropas, sowie Teilen der Dritten Welt, die den Weg der Demokratie gegangen sind, sei es aufgrund eines Volksaufstandes oder durch friedlichen zivilen Widerstand?

Warum nicht demonstrieren wie in der Ukraine?

Unterstützt denn dieser Versuch, auch wenn er ein weiteres Mal unternommen wird, nicht die Stimmen der kritischen Intellektuellen in ihrer moralischen Legitimation und ihrer Glaubwürdigkeit, um die Bürger dazu bewegen zu können, für einen Wandel einzustehen? Sollte man nicht ausrufen: Wir stehen, genau wie ihr, in den vordersten Reihen?

Warum beschränkt sich ein Großteil der Anstrengungen der aufgeklärten arabischen Intellektuellen derzeit darauf, Erklärungen abzugeben und Artikel zu verfassen, in denen nach Reformen gerufen wird?

Zwar zeichnen sie sich durch Erkenntnisreichtum und ein hohes Maß an analytischem Potenzial aus, jedoch fordern sie nicht ansatzweise dazu auf, sich in eine Bewegung einzureihen, die auf Demokratisierung drängt. Warum demonstrieren wir nicht so, wie es die Ukrainer und andere getan haben?

Der Glaube an den Staat und seine Institutionen

Ich bin davon überzeugt, dass sich die Antwort auf diese Fragen in allen Fällen auf zwei Grundprobleme beschränkt. Das erste Problem ist, dass die meisten arabischen Intellektuellen der verschiedensten Richtungen weiterhin daran glauben, dass der Staat und seine Institutionen ohne Alternative sind.

Veränderungen und Reformen können demnach erst durch einen überzeugenden Einfluss auf die Vertreter der Machteliten erreicht werden, oder – anders ausgedrückt – dadurch, dass sich dieser Weg den Herrschenden "offenbart".

Das zweite Problem führt uns zurück zur Sicht des arabischen Intellektuellen selbst, auf seine Stellung und Rolle im Allgemeinen. Ich behaupte, dass sich ein Großteil der Intellektuellen in unserer Region als unabhängige Existenzen begreift und sich somit eine besondere Stellung innerhalb der Landkarte der gesellschaftlichen Mächte verschafft.

Diese dokumentieren diese Intellektuellen einerseits unentwegt mit Aussagen wie "Ich als Intellektueller ...", um ihren Stellenwert, der über dem Volk steht, zu betonen. Andererseits zeugen Aussagen wie "Es ist nicht meine Aufgabe ..." und "Ich kann nur versuchen, zu kritisieren und zu analysieren, den Rest überlasse ich anderen" von der Dominanz eines avantgardistischen Verständnisses der Rolle des Intellektuellen in der Gesellschaft.

Beides ist zu verurteilen, denn es führt zu einer Verfestigung der gesellschaftlichen Starre und zu einer Verschärfung der intellektuellen Krise.

Amr Hamzawy

© Amr Hamzawy

Der Ägypter Amr Hamzawy ist Mitarbeiter des "Carnegie Endowment for International Peace" in Washington.

Der Artikel erschien am 10.02.2005 in "As-sharq-al-awsat".

Aus dem Arabischen von Helene Adjouri

Qantara.de
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