Die langsamen Mühlen der internationalen Justiz

Der US-Historiker Daniel J. Goldhagen kritisiert die langsamen Verfahrenswege des Internationalen Gerichtshofs im Falle von Völkermord. Auch fehle es der Justizbehörde an Durchsetzungsfähigkeit und weltweiter Anerkennung. Michael Hesse hat sich mit ihm unterhalten.

Der US-Historiker Daniel J. Goldhagen kritisiert die extrem langsamen Verfahrenswege des Internationalen Gerichtshofs im Falle von Völkermord. Auch fehle es der Justizbehörde an weitreichender Durchsetzungsfähigkeit und weltweiter Anerkennung, so Goldhagen. Michael Hesse hat sich mit ihm unterhalten.

Daniel J. Goldhagen; Foto: AP
Daniel J. Goldhagen: "Völkermord wird durch ein nachgiebiges internationales System ermöglicht"

​​Herr Goldhagen, was ist schlimmer als Krieg?

Daniel J. Goldhagen: Seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind mehr als 100 Millionen Menschen durch Eliminierungsmaßnahmen gestorben - viel mehr als durch Kriege. Massenmord und Genozid sind die Hauptprobleme tödlicher Gewalt und in diesem Sinn schlimmer als Krieg. Es ist an der Zeit, sie als genau das anzusehen.

Sind Genozide ein besonderes Problem der modernen Welt?

Goldhagen: Ja. Ein Blick aufs 20. und 21. Jahrhundert zeigt, dass Massenmorde oder Genozide regelmäßige Erscheinungen sind - wo auch immer. Die meisten Menschen wissen das nur nicht. Sie glauben, dass es sich um eine Reihe voneinander isolierter, schrecklicher Erscheinungen handelt, die sich im Sudan, in Bosnien oder in Ruanda abspielen. Das ist aber falsch. Richtig ist, dass Völkermord durch ein nachgiebiges internationales System ermöglicht wird.

Wie war das nach dem Holocaust noch möglich?

Goldhagen: Das Problem ist, dass Massenmörder erfolgreich sind und nichts zu befürchten haben. Der Genozid ist ebenso wie der Krieg eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Es geht also darum, die Entscheidung zum Völkermord für politische Führer sehr teuer zu machen.

Sie fordern nun dazu auf, politische Verantwortliche eines Genozids zu töten. Stellt das internationale Recht für Sie kein moralisches Problem dar?

Totenköpfe von Genozidopfern in Ruanda; Foto: AP
"Genozid ist ebenso wie der Krieg eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" - Totenschädel von Opfern des Genozids in Ruanda.

​​Goldhagen: Das internationale Recht ist, betrachtet als Teil der Vermeidung des Völkermordes, bankrott. Es ist in diesem Fall schlicht untauglich. Ich wäre froh, wenn es zu einer Reform käme. Es gibt ein höheres moralisches Recht, nämlich den Mord an unschuldigen Kindern zu verhindern.

1995 gab es eine stabile Koalition, die durch Bombardierungen den Völkermord in Bosnien stoppte. Viele sagten damals, dass diese Aktion unrechtmäßig erfolgt sei. Hätte sich die Koalition auf dieses Recht gestützt, wären die Menschen allesamt abgeschlachtet worden. Allen an einem Völkermord beteiligten Führern sollte klargemacht werden, dass sie, wenn sie einen Völkermord beginnen, zu Feinden der Menschheit erklärt werden.

Zur Beurteilung solcher Fälle wurde 2002 der Internationale Gerichtshof eingerichtet. Ist es nicht schwierig, zwischen Anstiftern und Ausführenden zu unterscheiden?

Goldhagen: Der Gerichtshof, den ich unterstütze, ist eine extrem langsam arbeitende Institution. Er benötigt viel zu viel Zeit, um zu Entscheidungen zu kommen. Man etablierte das Gericht, um dem Recht Geltung zu verschaffen. Hierfür fehlt es nicht nur an Durchsetzungsfähigkeit. Es ist nicht einmal in der ganzen Welt als Gericht anerkannt.

Die Verantwortlichen eines Völkermordes sollen also durch jedermann getötet werden dürfen?

​​Goldhagen: Ja. Jedes Land, das ein anderes daran hindern kann, Massenmorde zu begehen, sollte das Recht haben, in das Morden einzugreifen. Wer die Möglichkeit hat, jene zu töten, die Massemorde begehen, sollte dies tun.

Sollte man das nicht besser UN-Truppen überlassen?

Goldhagen: Sie brauchen leider viel zu lange - und kommen in der Regel nicht.

Sie warnen vor dem politischen Islam. Steht Huntingtons "Kampf der Kulturen" im Hintergrund ihrer Auffassung?

Goldhagen: Nein. Ich verstehe unter dem politischen Islam keine eigene Zivilisation. Er umfasst weder den fundamentalistischen Islam noch den radikalen Islam oder den Islam an sich. Der politische Islam ist eine Bewegung, die sich auf einem besonderen Verständnis des Islam gründet. Sie hebt die Trennung zwischen Religion und Politik auf. Er hat nichts mit einem Kampf der Kulturen zu tun.

Viele Iraner setzten sich zuletzt für Demokratie in ihrem Land ein, ohne den Islam als politische Form zu verdammen. Sind auch sie Teil eines politischen Islam?

Goldhagen: Der politische Islam ist eine totalitäre Bewegung, der die Politik und Gesellschaft nach den Vorstellungen des fundamentalistischen Islam formen will. Sie hat nichts mit Demokratie zu tun und damit auch nichts mit den Zielen der Demonstranten für einen demokratischen Iran.

Und Ahmadinedschad . . .

Mahmud Ahmadinedschad, Foto: AP
Eine Galionsfigur des politischen Islams schiitischer Prägung und notorischer Holocaust-Leugner: Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad

​​Goldhagen: Ist der Kopf des politischen Islam imk Iran. Er trägt die Auffassung einer aggressiveren Haltung des Islam bei jeder sich bietenden Gelegenheit vor. Damit ist nicht allein Israel gemeint - praktisch der gesamte Westen mit den USA als Führungsnation bildet sein Angriffsziel. Wie andere seinesgleichen spricht er offen davon, dass die Feinde des Islam getötet werden müssen. Das erinnert an die Nazis.

Sie schreiben in Ihrem Buch über die Grausamkeit der Täter, die über ihre Opfer lachen, während sie sie quälen.

Goldhagen: Viele glauben, dass sich mein Buch nur theoretisch über den Völkermord dreht. Dabei wird ein Großteil eben den Tätern gewidmet, der Frage, warum sie ihre Taten verüben, welches ihre Empfindungen sind. Die Täter sind überzeugt, dass ihr Handeln gut und notwendig ist. Sie handeln in dem Glauben, dass die Opfer getötet werden müssen, weil sie dämonisch oder untermenschlich sind. Daher lachen sie oft, während sie die Opfer foltern oder schlagen - und töten sie am Ende.

Worin liegt der Vorteil ihres neuen Begriffs des Eliminationismus, den sie anstelle des Genozids benutzen?

Goldhagen: Darin, dass er die Absicht der Täter genau widerspiegelt. Es geht ihnen darum, eine Bevölkerung, die als unerwünscht oder als gefährlich gilt, zu eliminieren. Diese Politik des Eliminationismus wird von vielen Staaten praktiziert. Sie nutzen für ihre Ziele Techniken wie die Transformation, einen Zwang zur Anpassung, weiter Reproduktionsverhinderung, Unterdrückung oder Vertreibung. Es gibt Massendeportationen und Konzentrationslager. Am Ende steht die Vernichtung.

Was unterscheidet den Holocaust von anderen Genoziden?

Goldhagen: Der Holocaust ist der einzige Fall, in dem ein Staat und eine große Zahl von Unterstützern antraten, um die Mitglieder einer Gruppe nicht nur im eigenen Land, sondern europaweit zu vernichten. Während der Nazi-Periode waren die Deutschen dazu entschlossen, jeden Juden auf der ganzen Welt zu töten. Zudem wurde der Holocaust durch eine internationale Koalition des Genozids verübt.

Der Mensch gilt als ein rationales und moralfähiges Wesen - und beteiligt sich dennoch am Völkermord. Sind Sie optimistisch, dass Genozide zu verhindern sind?

Goldhagen: Ja, das bin ich. Viele Länder haben bereits dem Krieg als Prinzip der Durchsetzung ihrer Interessen abgeschworen - für das 19. Jahrhundert wäre das undenkbar. Wir haben den Imperialismus überwunden, den Menschenrechten in vielen Staaten zur Geltung verholfen, machen Fortschritte in Staaten, die analoge Entwicklungen zu Genoziden und Eliminationismus gehabt haben.

Warum sollten wir das beim politischen Eliminationismus nicht auch schaffen? Die politischen Führer Europas und der USA sollten sich entschließen, ein nicht-eliminatives politisches System durchzusetzen. Wenn sie es wollten, könnten sie es über Nacht ermöglichen.

Interview: Michael Hesse

© Kölner Stadtanzeiger 2009

Daniel Jonah Goldhagen, geboren 1959 in Boston als Sohn eines rumänischen Holocaust-Überlebenden und nachmaligen Harvard-Professors, studierte Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaft. Heute ist er selbst "Associate Professor of Government and Social Studies" an der Harvard-Universität in Cambridge und "Associate" am Minda de Gunzburg Center for European Studies. In Deutschland bekannt wurde er durch seine Dissertation, deren Übersetzung 1998 unter dem Titel "Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust" erschien.

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