Unterschätzte Identitätsprobleme in einer Gesellschaft des Wandels

Das überraschend eindeutige Ja zum Minarettverbot ist Ausdruck eines Unbehagens, das mehrere Ursachen hat. So dürften auch die Folgerungen umstritten sein. Hintergründe von Christoph Wehrli

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Walter Wobmann, Präsident der Schweizer Anti-Minarett-Initiative; Foto: AP
Votum gegen Toleranz: Walter Wobmann, Abgeordneter der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei und Initiator der Anti-Minarett-Initiative

​​ Das Thema "Minarett" hat 53,4 Prozent der Stimmberechtigten mobilisiert – mehr als etwa die Personenfreizügigkeit im letzten Februar –, und eine klare Mehrheit von 57,5 Prozent hat zum Verbot neuer solcher Bauten Ja gesagt.

Etwas Erfreuliches vorweg: Der Abstimmungskampf ist ohne ernsthafte Zwischenfälle verlaufen. Was in der Schweiz sonst selbstverständlich ist, war es diesmal nicht.

Eine neuartige Diskussion

Leicht hätten einzelne Extremisten oder auch ausländische Einmischungen die Emotionen noch steigern können. So blieb es bei Provokationen seitens der Initianten, welche die Vertreter der Muslime nicht aus ihrem Konzept des Gesprächs gebracht haben.

Auch mit ihrer besonnenen Reaktion auf das Resultat zeigen die beiden islamischen Dachverbände, wie vertraut sie mit den Gebräuchen der schweizerischen Demokratie sind.

Spitze eines Minaretts in Zürich; Foto: AP
Die Zustimmung zur Anti-Minarett-Initiative stelle die Schweiz international an den Pranger, meint die Religionsexpertin Rifa'at Lenzin aus Bern. Die Schweiz habe in der Islamophobie nun eine Vorreiterrolle übernommen.

​​ Erfreulich war auch die breite Diskussion vor dem Volksentscheid. Sie mag nicht immer sachlich gewesen sein, zeigte aber, dass sich das politische Engagement nicht auf Bereiche von handfesten Interessen beschränkt. Die etablierten politischen Organisationen haben dies verkannt.

Die meisten Parteien und finanzstarken Organisationen waren relativ wenig präsent. Die Frage ist nicht so sehr, was eine massivere Gegenkampagne bewirkt hätte, als vielmehr, ob das Unbehagen, das sich jetzt Luft verschafft hat, längerfristig genügend politische Aufmerksamkeit erhalten hat.

Man hat sich wohl zu sehr daran gewöhnt, Überfremdungsängste mit wirtschaftlichen Argumenten – wir brauchen ja die ausländischen Arbeitskräfte – zu verdrängen oder unter dem Stichwort "Asylmissbrauch" zu kanalisieren.

Geringe konkrete Folgen

Die unmittelbaren Folgen der Abstimmung halten sich in Grenzen. Bestehende Minarette sind nicht tangiert, neue waren nicht in großer Zahl zu erwarten. Die Träger des Projekts in Langenthal, gegen das eine Einsprache anhängig ist, wollen allenfalls bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen.

Nach Meinung von Juristen haben sie durchaus Erfolgschancen. Der Protest gegen die "Missachtung des Souveräns" wäre dann abzusehen. Sollte nach der Verwahrungsinitiative ein weiterer Volksentscheid nicht umsetzbar sein, ist allerdings an die Verantwortung der Initianten zu erinnern, die den Konflikt mit übergeordnetem Recht in Kauf genommen hatten.

Die Diskussion um neue Kriterien für die Gültigkeit von Volksbegehren dürfte nun wieder aufkommen. Über eine wesentliche Änderung müssten aber Volk und Stände befinden. Nicht berührt sind von dem Verbot Moscheen ohne Minarette. Das Volksverdikt ist auch insofern genau zu nehmen. Baugesuche sind also nach den üblichen Regeln, ohne Diskriminierung, zu behandeln.

Integration – aber welche?

Moschee bei Wangen; Foto: AP
Kampagne der Angst und des Misstrauens: Nach der Abstimmung werden der Ruf der Schweiz als vielfältiges Land und die Glaubwürdigkeit seiner Menschenrechtspolitik leiden, meint Christoph Wehrli.

​​ Bedeutender sind die indirekten und atmosphärischen Konsequenzen der Abstimmung. Die Schweiz ist nicht in einer Lage, in der sie sich um ihr Ansehen im Ausland nicht kümmern müsste.

Das Minarettverbot mag da oder dort als bloßes Kuriosum zur Kenntnis genommen werden oder sogar Applaus erhalten. Der Ruf der Schweiz als freiheitlich-vielfältiges Land und die Glaubwürdigkeit seiner Menschenrechtspolitik werden aber leiden.

In der Gesellschaft ist das Klima für Muslime kälter geworden. Es scheint aber einiger politischer Wille zu bestehen, keine weiteren unnötigen Gräben aufzureißen, sondern die beidseitigen Anstrengungen zum Dialog und zur Integration fortzuführen. Es ist indessen nicht ganz einfach, aus dem Volksentscheid konkrete Konsequenzen abzuleiten.

Dass die staatliche Rechtsordnung nicht zur Disposition steht, dass Zwangsehen zu bekämpfen sind und gegen Extremisten vorzugehen ist, war schon vorher unbestritten.

Bestrebungen, muslimischen Organisationen einen öffentlich-rechtlichen Status zu verleihen und dafür Bedingungen aufzuerlegen, dürften wegen der Vielzahl der Gruppierungen mühsam sein und werden erfahrungsgemäß von den gleichen Kreisen bekämpft, die Feindbilder pflegen.

Dies könnte auch für das Anliegen gelten, Imame vermehrt in der Schweiz (oder in ihren Nachbarländern) auszubilden. Dennoch ist dies ein vernünftiger Weg, der weiter zu verfolgen ist.

Weil sich in der Abstimmung vermutlich auch Stimmungen und Ansichten manifestierten, die mit den Muslimen als solchen wenig zu tun haben, ist das Feld frei für viele Interpretationen und Schlüsse. War die Einwanderung gemeint? Die geistige Orientierungslosigkeit? Das wilde Geschehen in der weltweiten und hiesigen Wirtschaft? Das sind vorderhand nur Vermutungen.

Es liegt im Interesse von Regierung und Parteien, den Motiven nachzugehen und nicht geradezu mechanisch von "Ängsten" zu reden, die sie "ernst" nähmen.

Zu bedenken ist allerdings auch, dass die städtischen Regionen, wo die Pluralisierung der Gesellschaft weiter vorangeschritten ist, der Initiative weniger zugeneigt waren.

Am 1. Adventssonntag ist ein "Zeichen" gegen eine religiöse Minderheit gesetzt worden, das vermeintlich gratis war. Auf die Dauer kann sich die politische Schweiz nicht auf solche Blitzableiter verlassen.

Christoph Wehrli

© Neue Zürcher Zeitung 2009

Qantara.de

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