Wiederkehr der Geschichte?

Vor 60 Jahren deportierte Stalin Hunderttausende Tschetschenen und Inguschen nach Sibirien und Kasachstan. Gasan Gusejnov erinnert an ein grausames Kapitel sowjetischer Geschichte und zieht Parallelen zu heute.

Nicht die Unterstützung des internationalen Terrorismus oder des islamischen Fundamentalismus wurde den Tschetschenen und Inguschen vor sechzig Jahren vorgeworfen sondern Kollaboration mit den deutschen Besatzern. Mit diesem Argument war es Stalin schon gelungen, auch die Deportation anderer Völker der Sowjetunion zu legitimieren und durchzuführen.

So waren etwa die Wolgadeutschen noch im Jahre 1941 einer so genannten Präventivdeportation unterzogen worden. Und 1944, zum Kriegsende, hatte man auch Krimtataren, Kalmyken, Karatschaen und manche andere Volksgruppen unter grausamen Bedingungen in die Verbannung geschickt.

Im Unterschied zu Deutschen oder Krimtataren aber, die von der Sowjetunion nicht das Recht auf Rückkehr erhalten hatten, durften Tschetschenen und Inguschen in den Kaukasus zurückkehren. Drei Jahre nach Stalins Tod, im Jahre 1956, waren die meisten der Überlebenden wieder in ihrer Heimat.

Vorwurf der Kollaboration als Vorwand

Archivmaterial, das zu Beginn der 1990er Jahre kurzzeitig für die Forschung zugänglich war, belegt unmissverständlich, dass der Vorwurf der Kollaboration für Stalin und seine Regierung nur als Vorwand für die endgültige Eroberung des Kaukasus galt.

Das Russische Reich hatte Tschetschenien und einige andere Gebiete des Nordkaukasus erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter seine Kontrolle gebracht - Jahrzehnte also nach der Eroberung des südlichen Kaukasus. Ermöglicht wurde dies allein durch die Zwangsumsiedlung eines Großteils der einheimischen Bevölkerung in die entlegenen Gebiete des damaligen Nachbarn Russlands – des Osmanischen Reichs.

Heute leben die Nachfahren der umgesiedelten Völker, die so genannten „Muhadschirin“, überall in der Region des Nahen Ostens – von Jordanien bis Ägypten, von Israel bis Saudi Arabien.

Prägendes Erlebnis der Verbannung

Foto: AP
Tschetschenisches Flüchtlingslager

​​Nach dem Zerfall des Russischen Reiches im Jahre 1917 konnten die zentralasiatischen und kaukasischen Kolonien für kurze Zeit ihre Unabhängigkeit erlangen. Auch die Wiederherstellung des alten Reiches in den 1920er Jahren unter der Bezeichnung UdSSR konnte den Widerstand der Tschetschenen nicht brechen. Der bewaffnete Kampf für die Unabhängigkeit wurde bis zum Beginn des Hitler-Feldzuges gegen die Sowjetunion fortgesetzt.

Erst als die UdSSR gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zur Supermacht emporstieg, gelang es Stalin, die separatistischen Bestrebungen der kleinen Kaukasusvölker durch Zwangsdeportationen und die Dezimierung der Bevölkerung endgültig zu unterbinden.

In der offiziellen sowjetischen Historiographie blieb diese Episode der Geschichte bis Ende der 1980er Jahre ausgeblendet. Rehabilitiert wurden die Tschetschenen erst zu Beginn der 1990er Jahre. Die Erfahrung der Verbannung ist für die Selbstwahrnehmung der meisten Tschetschenen das Schlüsselereignis des 20. Jahrhunderts.

Tschetschenienkriege als Antwort

Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 keimten neue Hoffnungen auf Unabhängigkeit auf. Warum sollte uns nicht vergönnt sein, was Georgier und Aserbaidschaner, Usbeken und Ukrainer schon haben, fragten sich manche Menschen in Grosny.

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Russischer Panzer in Tschetschenien

​​Russland beantwortete diese Frage mit zwei Kriegen. Der erste, der von 1994 bis 1996 dauerte, endete mit einem Friedensabkommen. Der zweite brach 1999 aus. Dem enorm brutalen militärischen Vordringen der russischen Armee begegneteten die tschetschenischen Rebellen mit nicht minder grausamem Partisanenterror.

Verschiedenen Informationsquellen zufolge erfuhr die tschetschenische Unabhängigkeitsbewegung während der zweiten Phase des Krieges Unterstützung von internationalen islamistischen Organisationen. Nach offiziellen russischen Angaben kämpften auch Bürger der Länder des Nahen Ostens oder der Türkei auf Seiten der Tschetschenen. Vermutlich handelt es sich hierbei um Nachfolger der „Muhadschirin“, die vor fast 150 Jahren aus dem nördlichen Kaukasus vertrieben worden waren.

Menschenrechtsverletzungen von beiden Seiten

Russische und ausländische Menschenrechtler, die Flüchtlingslager im benachbarten Inguschetien oder in Tschetschenien besuchen, berichten über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die russische Armee wie auch durch die tschetschenischen Rebellen.

Die vom russischen Präsidenten Putin angeordnete Verschärfung des Drucks auf die Tschetschenen, den er als Teil des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus darstellt, hat mittlerweile nicht nur Tausende von Zivilisten in Tschetschenien das Leben gekostet, sondern auch zur Verbreitung der terroristischen Gewalt in den übrigen Gebieten der Russischen Föderation geführt.

Politische Lösung des Konflikts

Die heutige russische Führung ist offensichtlich der Meinung, dass sie mit ihrem Vernichtungskrieg den tschetschenischen Separatismus besiegen kann, indem sie diesen auf die Stufe des internationalen Terrorismus stellt. So soll ihm die internationale Unterstützung entzogen werden.
Ein beträchtlicher Teil der europäischen Öffentlichkeit hält den Konflikt in Tschetschenien zwar für eine interne Angelegenheit Russlands, erhebt aber immer lauter die Forderung nach der ernsthaften Suche nach einer politischen Lösung des Konflikts.

Für die Mehrheit der russischen Politiker ist der jetzige Krieg in Tschetschenien ein Teil des Krieges gegen den Terror. Für die Mehrheit der Tschetschenen ist dieser Krieg aber lediglich die Wiederkehr der Geschichte, die Neuauflage von Stalins Versuch, am 23. Februar 1944 das Problem Tschetschenien endgültig durch Deportation und Dezimierung aus der Welt zu schaffen.

Gasan Gusejnov, © Qantara.de 2004