Zeit der Ungewissheit

Nach dem Willen des Bundesinnenministeriums sollen irakische Flüchtlinge in ihr Land zurückkehren. Doch Menschenrechtgruppen kritisieren, die Bundesregierung verfüge dabei über kein klares, humanitäres Konzept. Martina Sabra hat sich für Qantara.de umgehört.

Foto: AP
Irakische Flüchtlingsfamilie in Deutschland

​​Khalid Subaidi floh 1995 aus dem Irak, nachdem er aus der Armee desertiert war. Heute arbeitet er als Ingenieur in Oberhausen. Als im April 2003 Saddam Husseins Statue vom Sockel geholt wurde, glaubte der 39jährige aus Bagdad fest daran, dass er bald in den Irak fahren und im großen Haus seiner Familie die Eltern und Geschwister wieder sehen würde – zumindest für einen Schnupperbesuch.

Doch ein Jahr nach dem Krieg sitzt Khalid Subaidi immer noch Abend für Abend in seiner bescheidenen Zweizimmer-Wohnung vor dem Fernseher, und fragt sich angesichts der Nachrichten, ob er wirklich nach Bagdad will: "Ich komme mir dumm vor, denn ich habe mich zu früh gefreut."

Khalid fürchtet nicht nur den Bombenterror in Bagdad, sondern auch, dass man ihn nach einem Besuch zuhause nicht wieder nach Deutschland zurücklässt. Denn obwohl er schon neun Jahre in Deutschland lebt, ist er nach wie vor nur "geduldet". Sein Asylantrag wurde seinerzeit abgelehnt.

Nur weil es keine Flugverbindung nach Bagdad gab und Iraker nicht abgeschoben werden konnten, durfte er in Deutschland bleiben. Er bekam eine befristete Aufenthaltsbefugnis, die alle zwei Jahre verlängert wurde. Gefragt, ob er im April 2004 noch einmal eine Verlängerung bekommen wird, zieht Khalid die Augenbrauen hoch: "Das weiß nur Gott", sagt er.

Zurück trotz prekärer Sicherheitslage?

Auch Alia Karrum und ihre drei halberwachsenen Kinder sind verunsichert. Der Ehemann und Vater Muhammad wurde zwar schon 1995 als politischer Flüchtling anerkannt, und durfte die Familie 1997 nachholen. Doch seit einigen Jahren denken die Innenminister der Länder immer mal wieder laut darüber nach, irakischen Flüchtlingen, insbesondere Kurden, die Anerkennung rückwirkend zu entziehen.

Alia und die drei Kinder besitzen nach sieben Jahren immer noch kein eigenes Aufenthaltsrecht. Die Aufregung bei den Karrums war deshalb groß, als irakische Nachbarn direkt nach dem Krieg im Mai 2003 Post von der Asylbehörde bekamen.

"Ich dachte, jetzt müssten wir zurück in den Irak," erzählt Alias vierzehnjährige Tochter Zeina. Sie ist die Beste in ihrer Klasse und spielt Mädchenfußball. "Ich hab' doch fast meine ganze Schulzeit hier verbracht. Früher war ich im Irak zuhause. Jetzt ist Deutschland mein Zuhause. Ich kann hier nicht einfach so weg."

Nach dem ersten Schreck stellte sich heraus, dass nicht die Abschiebung Thema des Schreibens war, sondern die Frage, ob die Flüchtlinge nach dem Sturz Saddam Husseins ihre Asylanträge aufrechterhalten wollten.

Dennoch waren viele Iraker durch diese Briefaktion verunsichert. Der UNHCR kritisierte das Vorgehen der deutschen Behörden: Die Sicherheitslage im Irak sei dermaßen prekär, dass man Flüchtlinge vorerst nicht ermutigen sollte, zurückzugehen.

1500 Euro für Rückkehr in den Irak

Wie viele Exil-Iraker aus Deutschland seit dem Sturz Saddam Husseins ihre Heimat besucht haben oder ganz in den Irak zurückgekehrt sind, ist unbekannt. Tatsache ist, dass die Maßnahmen der Bundesregierung zur aktiven Förderung der Rückkehr kaum einen Iraker ermutigen werden.

Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFL) in Nürnberg bietet den Rückkehrwilligen einen Gratisflug nach Jordanien plus Bustransport in den Irak an, dazu 100 Euro Taschengeld und 500 Euro Starthilfe pro Person, Kindern die Hälfte. Der Höchstbetrag für Familien liegt bei 1500 Euro, auch wenn mehr als zwei Kinder da sind.

Eine Vertreterin der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Bonn, die die Rückführungen im Auftrag der Bundesregierung koordiniert, hält diese Beträge für großzügig bemessen.

Doch irakische Flüchtlinge haben pro Person oft das Drei- und Vierfache an Schlepperorganisationen bezahlt, um aus dem Irak herauszukommen. "6000 Dollar war der Preis, nur für mich", sagt Thamer, ein KFZ-Mechaniker aus Basra, der jetzt in Berlin lebt.

Über die 500 Euro des BAFL kann er nur lächeln, zumal die Bundesregierung im Irak - anders als in Afghanistan oder Bosnien - bislang keine Existenzgründungsprogramme für Rückkehrer aufgelegt hat. Es erstaunt deshalb nicht, dass bisher nur knapp 300 Irak-Flüchtlinge, also weniger als 0,4 Prozent, vom Rückkehrangebot des BAFL Gebrauch gemacht haben.

Irgendwo zwischen Himmel und Erde

Nicht materielle Anreize, sondern psychisch-sozialer Druck soll offenbar die Irak-Flüchtlinge zur Rückkehr "ermutigen". Samir, ein Musiker aus Nadschaf, der ins Visier von Anhängern Saddam Husseins geraten war, sitzt seit 15 Monaten in einem Heim in der Eifel fest.

Die baufällige Massenunterkunft liegt eine halbe Stunde Fußmarsch von der nächsten Bushaltestelle entfernt. Wenn er unter der Woche woanders übernachten oder über 30 Kilometer weit wegfahren will, braucht er eine Genehmigung.

Die Küche starrt vor Schmutz. Die Wände in dem Zimmer, das er mit einem anderen Iraker teilt, hat Samir selbst gestrichen, das kaputte Dach geflickt. Sein Zimmernachbar hat Angst: "Die Eingangstür zum Heim läßt sich nicht schließen. Sie steht immer offen, und wir fürchten, dass irgendwann jemand Benzin reinschütten und es anzünden könnte."

Einfach nur leben und arbeiten

Einen Hausmeister gibt es nicht. Dafür steht morgens um sieben der Wachdienst im Zimmer: zur Kontrolle, ob die Flüchtlinge im Heim geschlafen haben, und um sie für die Arbeit einzuteilen. Für seine 200 Euro Sozialhilfe muß Samir Straßen kehren und Schulgebäude putzen. Er würde sich lieber heute als morgen eine eigene Wohnung und eine Arbeit suchen.

Aber er darf nicht. In den Irak zurück kann er zur Zeit aber auch nicht. "Ich hänge irgendwo zwischen Himmel und Erde, bin weder tot noch lebendig. Ich habe schon mal überlegt, nach Holland abzuhauen. Aber dann wäre ich illegal. Und ich habe keine Lust, es mit Kriminellen zu tun zu haben, immer vor der Polizei oder vor Kontrollen weglaufen zu müssen. Ich will einfach nur arbeiten und leben."

Legaler Aufenthalt ohne Arbeit

Auch Alia Karrum würde gern einen Job annehmen, aber auch nach sieben Jahren legalem Aufenthalt in Deutschland verweigert ihr das Arbeitsamt immer noch die notwendige Genehmigung. "Ich hatte schon mehrere Jobs, sogar die Verträge in der Hand: aber ich bekomme die Papiere nicht. Dem Sozialamt ist es lieber, uns durchzufüttern", sagt Alia mit einem Anflug von Sarkasmus.

Sie ist auch deshalb zornig auf die Bürokraten, weil sie sie auf die Hausfrauenrolle fixieren. "Im Irak habe ich eine Grundschule geleitet. Ich war für fünfhundert Kinder verantwortlich. Hier in Deutschland, wo die Frauen angeblich so emanzipiert sind, werde ich zum Nur-Mutter-Sein verdonnert."

Um nicht gänzlich von der Sozialhilfe abhängig zu sein, steht Alia morgens um halb fünf auf und geht putzen – ohne Papiere, immer mit der Angst, erwischt zu werden. Dann müsste sie 5000 Euro Strafe zahlen.

Alia hat große Sehnsucht nach dem Irak, doch ob sie jemals wieder dort leben will, weiß sie nicht. "Die Iraker müssen das Recht haben, selbst zu entscheiden, ob sie zurück wollen", sagt sie entschieden.

Potenzial der Flüchtlinge sollte genutzt werden

Freiwilligkeit – darauf besteht auch der Frankfurter Verein WADI, der seit vielen Jahren Entwicklungsprojekte im Nord- und Südirak unterstützt. In einem Gutachten über die Situation von Irak-Flüchtlingen in Deutschland fordert WADI die Bundesregierung auf, den Irak-Flüchtlingen endlich eine klare Perspektive zu bieten.

Das heißt 1) verlässliche, transparente Aufenthaltstitel und Arbeitsgenehmigungen statt Behördenwillkür, und 2) umfangreiche Rückkehrerprogramme statt winziger Alibi-Finanzspritzen für Einzelne.

"Deutschland verpasst eine Chance, wenn es das Potential der irakischen Flüchtlinge hierzulande nicht nutzt", sagt WADI -Mitarbeiter Thomas Uwer. Damit meint Uwer nicht nur die zahlreichen Ingenieure und Akademiker, die beim Aufbau von Wirtschaftsbeziehungen helfen könnten.

Konkrete Erfahrung mit Demokratie

"Viele Exil-Iraker hierzulande haben die Demokratie und den Rechtsstaat verinnerlicht. Diese Leute, mit ihrer konkreten Erfahrung in einem demokratischen System, könnten helfen, den kulturellen und politischen Dialog anzukurbeln, der für den Aufbau und die Befriedung des Iraks dringend nötig ist."

Doch wenn die Iraker bei jedem Besuch in Bagdad Angst haben müssten, dass sie nicht wieder nach Deutschland zurück können, würden sie diese Funktion nicht wahrnehmen, fügt Uwer hinzu.

Die Zeit ist noch nicht reif

Alia Karrum hofft, dass ihre Kinder bald deutsche Pässe bekommen, und damit ihre Zukunft in Deutschland gesichert ist. Auch Khalid Subaidi hat die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt. Er will auf Nummer sicher gehen, denn er hat in Oberhausen nicht nur einen guten Job, sondern auch seit Jahren eine Freundin und einen großen Bekanntenkreis.

"Ich mußte schon einmal alles zurücklassen, und von vorn anfangen", sinniert er. "Ich möchte das nicht noch einmal erleben." Gleichzeitig träumt Khalid Subaidi immer noch davon, irgendwann wieder im Irak zu leben: "Auf jeden Fall. Irak ist mein Land, und ich will irgendwann zurück. Ich warte nur auf die Zeit. Momentan ist nicht die Zeit, zurückzugehen."

Martina Sabra

© Qantara.de 2004