Ohrfeige für Opposition und Militär

Die Machtfülle der AKP nach den Parlamentswahlen in der Türkei ist kaum kontrollierbar. Nun muss sich eine politische Linke als Gegengewicht formieren, sonst droht ein faktisches Ein-Parteien-Regime, meint Ömer Erzeren in seinem Kommentar.

Recep Tayyip Erdogan und seine Frau Emine; Foto: AP
Konnte einen grandiosen Sieg einfahren: Recep Tayyip Erdogan - hier mit seiner Frau Emine

​​Mit dem überwältigenden Wahlsieg der konservativen "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" kehrt politische Entspannung in der Türkei ein. Die Partei von Ministerpräsident Tayyip Erdogan erhielt fast 47 Prozent der Stimmen und verfügt nun über eine breite Mehrheit im Parlament.

Jeder zweite Bürger wählte die AKP. Bei den letzten Wahlen 2002 waren es dagegen nur 34 Prozent der Bürger, die die AKP wählten. Das Wahlergebnis ist eine Ohrfeige an die Adresse des Militärs und an die Adresse der Oppositionsparteien, die meinten, mit nationalistischen Phrasen und militaristischer Kungelei punkten zu können.

Mit einem Memorandum gegen die Regierung hatten die Militärs mit dem Säbel gerasselt. Die Militärs und die Oppositionsparteien zogen gemeinsam an einem Strang bei der Wahl des Staatspräsidenten durch das Parlament. Die Wahl von Außenminister Abdullah Gül zum Staatspräsidenten scheiterte.

Die Strategen im Generalstab meinten, mit Drohgebärden die AKP in die Knie zwingen zu können. Die Quittung wurde bei den Wahlen präsentiert. Das Wahlergebnis ist gleichzeitig ein Referendum gegen die Interventionsgelüste des Militärs.

Das Wahlergebnis straft jene Lügen, die der AKP die Rolle eines obskuren islamischen Geheimbundes zuwiesen. Analysiert man die regionalen Ergebnisse, wird klar, dass die AKP es geschafft hat, die Rolle einer Volkspartei zu übernehmen. Ethnische und religiöse Zugehörigkeit spielten eine geringere Rolle als bei vorherigen Wahlen in der Türkei.

Unter den Wählern der AKP sind Armenier und Alewiten. Bei den kurdischen Wählern konnte die Partei ihren Stimmenanteil erheblich steigern. Quer über soziale Klassengrenzen erhielt die Partei Stimmen.

Wahlkampfveranstaltung für einen kurdischen Abgeordneten in Gaziantep; Foto: AP
Wahlkampfveranstaltung für einen kurdischen Abgeordneten in Gaziantep

​​Die Zeiten, als die AKP vor allem die Partei des islamisch geprägten, aufstrebenden anatolischen Kapitals war und ihre Stimmen in den Elendsbezirken der Großstädte erhielt, sind vorbei. Die Partei schaffte den Durchbruch auch in Arbeiterquartieren und Vierteln des bürgerlichen Mittelstandes.

Entsprechend ist die Komposition der AKP-Abgeordneten im Parlament. Die Parlamentsfraktion ist ideologisch höchst heterogen.

Da finden sich Abgeordnete wie der Sozialdemokrat Ertugrul Günay, der die Wichtigkeit von staatlicher Sozialpolitik formuliert, oder der linksliberale Verfassungsrechtler Zafer Üskül, der die anti-demokratischen Paragrafen der Verfassung abschaffen will, neben Abgeordneten, die einst in den islamistischen Kaderschmieden ihre politische Karriere begannen.

Es ist der Pragmatismus, der die AKP eint: Ein pro-europäischer Kurs, eine liberale Wirtschaftspolitik, Integration des türkischen Marktes in die kapitalistische Weltökonomie.

Eine solche Programmatik erfordert den Abbau des staatlichen Apparates, der einst nicht nur die Ökonomie kontrollierte, sondern auch die politisch-ideologischen Eckpfeiler des Systems bestimmte.

In der Wirtschaft ist der alte kemalistische Apparat bereits entmachtet. Nun steht die Entmachtung im politischen Bereich bevor. Eine der letzten Bastionen ist die Armee. Die neue Regierung wird diese Bastion nicht stürmen, doch Schritt für Schritt ihre Macht untergraben.

Das Wahlergebnis bietet der Türkei eine Chance. Zum Beispiel im ungelösten kurdischen Konflikt. Die kurdische "Partei der demokratischen Gesellschaft" wird mit 21 Abgeordneten eine Fraktion bilden können. Die Kandidatin Sebahat Tuncel, während des Wahlkampfes noch wegen Unterstützung der illegalen PKK im Gefängnis, zieht nun ins Parlament ein.

Erstmals seit 1993 haben die Kurden eine autonome Stimme im Parlament. Doch das Wahlergebnis birgt auch eine große Gefahr. Die Machtfülle der AKP ist kaum kontrollierbar.

Trotz der Transformation der Partei ist die Führungsriege in den Händen von Männern, die mit islamistischen Wertvorstellungen in die Politik einstiegen. Eine starke parlamentarische Opposition ist vonnöten.

Die Republikanische Volkspartei (CHP) von Deniz Baykal erhielt fast 21 Prozent der Stimmen – eine herbe Niederlage. Die einst sozialdemokratische Partei setzte mit Baykal ("Das Zement dieser Gesellschaft ist der Nationalismus") dem politischen Projekt der AKP nichts entgegen, außer der Aussage, dass die CHP dem Staat treu ergeben sei.

Doch eine Staatspartei hat in der Türkei keine politische Zukunft. Die Türkei braucht dringender denn je eine demokratische Linke als Gegengewicht zur AKP. Die Zukunft wird zeigen, ob die CHP in der Lage ist, eine solche Transformation zu vollziehen. Ansonsten droht der Türkei ein faktisches Ein-Parteien-Regime.

Ömer Erzeren

© Qantara.de 2007

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