Irak oder die "islamische Wut"?

Viele Beobachter sehen die Terroranschläge von London als Rache für Tony Blairs Irakpolitik. Sami Zubaida, emeritierter Professor für Politik und Soziologie am Birbeck College in London, geht dieser These auf den Grund.

Weibliches Hamas-Mitglied hält Koranexemplar in der Hand; Foto: AP
Gibt es eine "bedingungslose" Wut des Islam gegen den Westen? Sami Zubaida bezweifelt diese These.

​​Auf die Terroranschläge, die London am 7. Juli erschütterten, folgte eine kurze Phase politischer Einigkeit. Doch schon sehr bald erhob sich der Chor der Kommentatoren, der beschwor, dass die Attacken als Resultat der britischen Politik im Irak anzusehen sind. Politiker wie George Galloway und Journalisten wie John Pilger (dessen Coverstory im New Statesman mit "Blairs Bomben" überschrieben war) beschuldigten Tony Blair, der eigentliche Verursacher der auf britischem Boden verübten Grausamkeiten zu sein.

Großbritannien, so lässt sich diese Argumentationslinie zusammenfassen, sei ein Ziel für den islamischen Zorn geworden, weil es ein islamisches Land angegriffen hat und seitdem besetzt. Die meisten beeilten sich hinzuzufügen, dass dies natürlich nur eine Erklärung, doch sicher keine Rechtfertigung darstelle. Doch, bei näherer Betrachtung, was taugt diese Erklärung wirklich?

Bedingte Wut

Das widersprechende Argument konzentriert sich auf einen Begriff, den Bernard Lewis in seinem Artikel "Die Wurzeln der islamischen Wut" prägte ("The Roots of Islamic Rage", Atlantic Monthly, September 1990). Seine dort und seitdem geäußerten Theorien sind wohldurchdacht und werden historisch begründet, was nicht verhindern konnte, dass im nachfolgenden populären Diskurs der Begriff der "islamischen Wut" aufgegriffen wurde, um recht pauschal eine essenzielle Qualität religiösen Gefühls zu beschreiben.

Es ist interessant, dass seine Argumente gleichermaßen die ansprechen, die diese "Wut" fürchten, wie diejenigen, die sie nachvollziehen und teilen können. Islam, so der Unterton, ist eine "erobernde" Religion, die von Natur aus bestrebt ist, andere zu dominieren.

Trotzdem wurde die moderne Welt Zeuge der Schwäche und des Niedergangs islamischer Staaten, sah das Ende des Kalifats und die Kolonisierung oder Unterwerfung islamischer Länder unter die Herrschaft nicht-islamischer Staaten. Christen, Juden, Hindus — die, wenn es hochkommt, geschützte Minderheiten sein sollten — werfen sich nun zu Machthabern auf, die über Muslime herrschen. Diese Situation ist es, die für die "islamische Wut" verantwortlich ist und die Muslime dazu bringt, zurückzuschlagen und von einem Wiedererstarken des Islam zu träumen.

Diese Sichtweise impliziert, dass die "islamische Wut" nicht durch einzelne Ereignisse hervorgebracht wird, sondern "bedingungslos" ist. Nicht etwa die Unterdrückung der Palästinenser durch die Israelis oder die amerikanische Invasion des Irak haben also hiermit zu tun. Vielmehr gehöre die "Wut" zum Wesen des Islam, und zwar immer dann, wenn er nicht in der Position des Herrschenden ist, nicht dominiert.

Das Argument hält einer Überprüfung anhand der geschichtlichen und aktuellen Tatsachen nicht stand (und zwar auch denen nicht, die von Lewis selbst wiedergegeben wurden). Zeigen diese doch zunächst einmal, dass es keineswegs den "einen Islam" gibt, sondern vielmehr eine Vielzahl sehr verschiedener Muslime, von denen sich sehr viele mit anderen Machthabern arrangierten, koexistierten und prosperierten, und das in ganz unterschiedlichen Machtkonstellationen — vom geschwächten und sich mühsam modernisierenden Osmanischen Reich über die britische Kolonialherrschaft in Indien bis zu Modellen der Koexistenz in Malaysia und Afrika.

Wenn es Unabhängigkeitsbestrebungen im 20. Jahrhundert gab, nahmen diese nur selten (wie anfangs in Algerien) religiöse Formen an. Die meisten blieben säkular und nationalistisch, und einige zeichneten sich gar durch die Beteiligung von christlichen Mitstreitern aus (wie in Ägypten oder in der Levante).

Fast ein Jahrhundert später aber ist es durchaus möglich, von einer bestimmten Art "islamischer Wut" zu sprechen. Dabei handelt es sich nicht um eine allgemeine und schon gar nicht essenzielle Wut, sondern vielmehr um eine, die sich besonderen weltpolitischen Gegebenheiten und dem Wirken bestimmter Gruppen und Interessen ergibt. Und hier nun kommt auch der Irak ins Spiel.

Eine verführerische Vorstellungswelt

Es muss darauf hingewiesen werden, dass es sich bei den Selbstmordattentätern vom 7. Juli und denen, die nach dem 21. Juli festgenommen werden konnten, weder um Iraker noch um Palästinenser handelt. Dass einige unter ihnen pakistanischer Herkunft sind, ist nur insofern von Belang, weil dieses Land eine Schlüsselrolle im internationalen Dschihad-Netzwerk spielt. Mit einer spezifisch pakistanischen Kultur oder dem nationalen Erbe hingegen hat es nichts zu tun. Typischerweise verleugnen die radikalen Dschihadisten sogar den Islam ihrer Eltern und beschimpfen ihn als irrig und korrumpiert, verglichen mit ihrem eigenen, angeblich reinen Glauben.

Ebenso interessant ist die Beteiligung von Konvertiten. So viel bekannt ist, ist dies der Fall bei den Attentätern afro-karibischer Herkunft, bei denen die Entfremdung als "Briten zweiter Klasse" eine Rolle gespielt haben dürfte. Diese Dschihadisten geben vor, Palästinenser und Iraker zu rächen, jedoch im Namen einer universalen Gemeinschaft von Muslimen, die sich im Kampf gegen die Nichtgläubigen befindet, von denen sie unterdrückt wird.

Und nicht nur Irak und Palästina werden hierbei genannt, sondern auch Afghanistan, Tschetschenien, Kaschmir und Bosnien. Und schließlich ist die militärische Präsenz der Ungläubigen auf der arabischen Halbinsel und in anderen islamischen Staaten zu nennen (was ja das ursprüngliche Hauptmotiv des Dschihads Osama bin Ladens gegen die USA und ihre saudischen Gastgeber war). Deshalb ist der Irak wohl auch nur als eine unter mehreren Episoden in dieser Geschichte anzusehen.

Die Anschläge vom 11. September gingen den Invasionen im Irak und Afghanistan voraus und fielen mit Ereignissen in Palästina zusammen. All diese Episoden bilden natürlich einen Teil des weltweiten Dschihad, allerdings nur insoweit, als dass sie die ideologische Vorstellungswelt des islamischen Krieges gegen die Ungläubigen bestätigen und untermauern.

Zu Recht wurde gesagt, dass nur eine kleine Minderheit der Muslime in diese Aktivität involviert seien. Dennoch gibt es Anzeichen dafür, dass viele eher passive oder gemäßigte Muslime — und sogar einige kaum religiöse — an dieser Vorstellungswelt teilhaben: dem Gefühl nach, aber auch konkret, etwa durch das Sammeln von Spenden in Moscheen.

Die arabischen Medien sind nicht nur voll von Bewunderung und Unterstützung für diese Akte des "Märtyrertums", sondern drücken oft nur geheucheltes Bedauern aus, um sofort "Erklärungen" für die Terrorakte nachzuliefern, wie eben die aggressive Politik des Westens. Der 11. September selbst wurde in einigen Teilen der islamischen Welt begeistert gefeiert und in anderen mit stiller Genugtuung quittiert (und dies auch in nicht-islamischen). Elemente des "Krieges gegen den Terror", wie das berüchtigte Gefängnis von Abu Ghraib oder das Gefangenlager von Guantánamo, tragen zu dieser Mentalität ebenso bei wie der wachsende Druck, dem viele Muslime in westlichen Ländern ausgesetzt sind.

Die ideologische Leerstelle

Die Idee einer Teilung der Welt in verschiedene, sich feindlich gegenüber stehende religiöse Gemeinschaften ist keine neue und beschränkt sich nicht auf die Muslime. Im zaristischen Russland und in anderen Teilen Europas gab es Judenpogrome; Muslime und Juden wurden von der Iberischen Halbinsel vertrieben; religiös motivierte Aufstände gab es im 19. Jahrhundert in Syrien und im Libanon; die Massaker an den Armeniern in der Türkei; es gab "ethnische Säuberungen", von denen etwa die Bosnier in Ex-Jugoslawien betroffen waren. Viele andere Beispiele grausamer Gewalttaten ließen sich aufzählen, die von solchen Vorstellungen genährt wurden.

In einem weitgehend säkularisierten 20. Jahrhundert mögen diese Ideen etwas an Bedeutung verloren haben, doch verschwunden sind sie keineswegs. Aber warum schoben sie sich gegen Ende des Jahrhunderts wieder so gewaltig in den Vordergrund? Einige Autoren widmeten sich dem Thema des "politischen Islam" und versuchten seinen Aufstieg zu erklären, doch ist ja auch dieses Phänomen weder als homogen noch als einig zu bezeichnen. Auch der "politische Islam" umfasst viele sehr verschiedene Gruppen, von denen nur wenige gewalttätig sind.

Ein wichtiges Phänomen der jüngsten Geschichte ist der Niedergang der Linken im Allgemeinen und des Marxismus im Besonderen als Diskurse des Widerstandes gegen den Kapitalismus und den mit ihm verbundenen Ungerechtigkeiten, zu denen man den Rassismus zählte, Klassenunterdrückung und Imperialismus.

Die Opposition gegen den Imperialismus und vor allem gegen den US-amerikanischen Militarismus, bildete ein wichtiges Element dieses linken Diskurses. Amerika und seine Verbündeten sahen Kommunisten und überhaupt alle linken Bewegungen in der Welt als Gegner im Kalten Krieg, was der Glaubwürdigkeit der Linken zugute kam.

Nationalistische Bewegungen, darunter auch der arabische, übernahmen den linken Diskurs, wie es Gamel Abdel Nassers "Arabischer Sozialismus" prototypisch vorführte, doch auch die Baath-Partei (in etwa: "Arabische Sozialistische Partei der Wiedererweckung"), die sich noch stärker marxistischer Motive und Vokabulars bediente, ist hier zu nennen. Das Scheitern dieser Bewegungen, der Zusammenbruch des Kommunismus und der sowjetischen Bedrohung machte diese Diskurse zunehmend überflüssig.

Es geschah im Kontext dieses Prozesses, dass die Leerstelle, die die radikale Linke hinterließ, vom dschihadistischen Islam besetzt wurde und zum wichtigsten Widersacher der USA wurde (auch wenn diese viele ihrer muslimischen Verbündeten behielten). Dies würde schließlich nicht nur erklären, warum diese Form des radikalen Islam so attraktiv auf so viele entrechtete Gruppen im Westen wirkt, sondern warum sich so viele Einzelne zu ihm bekehren lassen: Der Dschihad verspricht Aktion und Rache.

Viele dieser Neuanwerbungen geschehen in Gefängnissen, wo militanter Islamismus denen, die sich entrechtet und verachtet fühlen, eine neue, ehrenhafte Identität zu versprechen scheint: als Teil eines weltweiten Kreuzzugs gegen die Arroganz der Ungläubigen; ein Kreuzzug, für den einige unter ihnen zu sterben bereit sind.

Die Dominanz des militanten Islam als Hauptgegner des Westens in einem "Krieg der Welten" würde ebenso erklären, warum sich auch einige der verbliebenen sektiererischen Altlinken von ihm angezogen fühlen. Maoisten und Trotzkisten etwa zeigen einige Sympathie für diese desillusionierten Muslime und scheuen auch nicht vor gemeinsamen Aktionen zurück.

Ein Beispiel hierfür ist die Respect Party (allgemein angesehen als kämpferischer Arm der Socialist Workers Party), dessen Kandidat George Galloway in der letzten Unterhauswahl vom Mai 2005 den Sitz für den Wahlbezirk Bethnal Green & Bow im Londoner Osten gewinnen konnte. Es gibt keinen Beweis für eine tatsächliche Komplizenschaft der Linken mit oder auch nur Sympathie für terroristische Aktionen. Und doch hat der Klassenkampf eine religiöse Note bekommen.

Der Faktor Irak

Um nun auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Welche Rolle spielt der Irak bei den Bombenanschlägen von London? Der wichtigste Beitrag des Irakkrieges mag darin bestehen, dass es einmal mehr das ideologische Bild einer weltweiten islamischen Gemeinschaft im Kampf gegen die Christen und Juden bekräftigt. Der Rückzug der britischen und amerikanischen Truppen aus dem Irak würde dieses Bild weder verändern, noch würde es den bereits etablierten Glauben an das eigene Märtyrertum der Dschihadisten entkräften.

Möglicherweise würde ein solcher Rückzug zu einer Art Siegeserklärung führen und gar zu einem kurzen Aufschub, doch wird es immer wieder einen neuen Kriegsgrund in diesem globalen Kampf geben. Wir wissen nicht, wann die Dynamik dieser Bewegung nachzulassen beginnt: vielleicht erst, wenn klar wird, dass dieser Dschihad nichts ändert. Nichts ändert an der weltweiten Armut, Korruption und Unterdrückung in muslimischen Staaten. Und wenn deutlich wird, dass er auch nichts zur Befreiung der Palästinenser beiträgt, sondern sogar das Gegenteil bewirkt, indem er lediglich eine Legitimation für ihre anhaltende Unterdrückung liefert.

Und doch gibt es etwas am Irak, was sehr wohl mit dem globalen Dschihad zu tun hat: Die Invasion hat aus dem Irak ein fruchtbares Land gemacht, fruchtbar für neue terroristische Kader, sowohl, was die Anwerbung neuer Attentäter als auch das Training angeht. Die Opfer sind zum weit überwiegenden Teil Iraker und viele sind "falsche Muslime". Wie so viele ihrer Glaubensbrüder überall in der Welt werden sie einfach nicht mehr als teil der umma angesehen, der vorgestellten internationalen islamischen Gemeinschaft.

Sami Zubaida

© Sami Zubaida

Der Beitrag erschien zuerst auf der Website "openDemocracy – free thinking for the world".

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