Palästina am Scheideweg

Nie war die Chance für Aussöhnung zwischen Juden und Palästinensern größer. Doch erst in einem Jahr werden wir wissen, ob sich die Tür zum Frieden öffnet oder zugeschlagen wird, meint der Friedensaktivist Uri Avnery.

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Interims-Führer Mahmoud Abbas auf Wahlkampf-Tour im palästinensischen Deir al-Bahlah

​​In den 45 Jahren an der Spitze des palästinensischen Befreiungskampfes ist Jassir Arafat die nahezu unmögliche Aufgabe weitgehend gelungen, die Einheit seines Volks zu erhalten. Viele sagten voraus, dass nach seinem Tod die Nation in hundert Teile zerbrechen würde. Aber der Konsens, der um die Person von Mahmud Abbas, dem neuen PLO-Vorsitzenden, gewachsen ist, hat diese Hoffnungen (oder Befürchtungen) zumindest bisher nicht bestätigt.

Ein Partner für den Frieden

In der Vergangenheit lieferte die Uneinigkeit der Palästinenser einen Vorwand für die Feinde des Friedens in der israelischen und amerikanischen Führung, die freudig ausrief: "Seht ihr? Es gibt keinen Gesprächspartner!" Es ist wichtig für die Palästinenser, der Welt zu zeigen, dass es nun tatsächlich jemanden gibt, mit dem man reden kann.

Und da bereits sowohl Präsident Bush als auch der israelische Premier Ariel Sharon erklärt haben, dass Mahmud Abbas "gemäßigt" und "pragmatisch" sei, werden sie es schwer haben, zu Ehud Baraks verlogenen Aufruf "Wir haben keinen Partner!" zurückzukehren.

Deshalb ist es wichtig, dass Mahmud Abbas gewählt wird, und zwar von einer starken Mehrheit. Er muss eine Chance bekommen, genauso wie seine Überzeugung, dass ohne Selbstmordanschläge und bewaffnete Intifada die Palästinenser ihre nationalen Minimalziele erreichen können:

Ein Palästinenserstaat im Westjordanland und dem Gazastreifen, in den Grenzen von 1967 (möglicherweise mit kleineren Grenzkorrekturen), Jerusalem als Hauptstadt der beiden Staaten, Auflösung der Siedlungen und Einigung über eine praktikable Lösung des Flüchtlingsproblems.

Vielleicht ist das ein naiver Glaube. Vielleicht gibt es überhaupt keine Chance. Vielleicht haben letztlich die Palästinenser "keinen Gesprächspartner".

Aber es ist wichtig für die Palästinenser – und die ganze Welt – diesen Glauben auf die Probe zu stellen. Nach einem Jahr, Ende 2005, wird es möglich sein, Schlussfolgerungen zu ziehen. Wenn Mahmud Abbas bedeutsame Fortschritte vorweisen kann, hat er gewonnen. Wenn nicht, wird wohl die dritte Intifada ausbrechen.

Rückzug aus Gaza

Sharons Ankündigung, jüdische Siedler aus Gaza abzuziehen, gibt jedoch Grund zur Hoffnung. In der neuen Koalition mit der Arbeitspartei, im Verbund mit einigen ultraorthodoxen Parteien, kann er nun seinen Rückzugsplan beginnen. Es wird aber ein Hindernislauf.

Wird es der Regierung gelingen, die Öffentlichkeit für einen Rückzug aus dem kompletten Gazastreifen zu gewinnen? Werden die Siedler ohne Blutvergießen den Rückzug antreten? Wird Sharon mit der Wiedereröffnung des Hafens und Flughafens von Gaza einverstanden sein? Wird Israel für freien Transit zwischen Gaza und dem Westjordanland sorgen – einer der Hauptpunkte des Oslo-Abkommens, das immer wieder von allen israelischen Regierungen verletzt worden ist?

Optimisten glauben, dass der Rückzug aus dem Gazastreifen – falls er wirklich stattfindet – eine eigene Dynamik entwickeln wird, die eine Möglichkeit für dauerhaften Frieden hervorbringt. Nachdem Sharon und Bush Arafat jahrelang dämonisiert haben und den Hass instrumentalisierten, um jeglichen Schritt zum Frieden zu sabotieren, ist ihr Alibi nunmehr verschwunden, zusammen mit dem Palästinenserführer selbst.

Zudem wird Bush seine letzte Amtzeit nutzen wollen, um etwas Bedeutsames zu vollbringen, genauso wie Arbeiterparteichef Shimon Peres. Die Weltöffentlichkeit wird es verlangen. Europa wird sich einmischen. Sharon wird vielleicht von der Welle weggespült, die er selbst erzeugt hat.

Abzugspläne aus politischem Kalkül

Andere sind weniger optimistisch. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Sharon den "Rückzugsplan" nicht nur ausgeheckt hat, um sich die Verantwortung für über eine Million Palästinenser im Gazastreifen vom Hals zu schaffen, sondern auch, um in aller Ruhe 58% des Westjordanlands zu annektieren.

Wird er seinen Traum aufgeben? Über das Westjordanland will er erst sprechen, wenn der Gazaplan abgeschlossen ist, was nicht vor Ende 2005 der Fall sein wird. Das nächste Jahr, 2006, wird von den Wahlen in Israel geprägt sein.

Wer hat Recht, die Optimisten oder die Pessimisten? Tatsächlich kann heute niemand voraussehen, was passieren wird. Es hängt von vielen Faktoren ab, einschließlich des israelischen Friedenslagers.

Jedenfalls sollten wir mit jeder gewählten palästinensischen Führung zusammenarbeiten und uns nicht in diesen demokratischen Prozess einmischen. Ein Jahr wird vergehen, bevor wir wissen, ob sich tatsächlich eine Möglichkeit für Frieden eröffnet – oder eine weitere Chance vertan wird.

Uri Avnery

Übersetzung aus dem Englischen: Tobias Troll

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​​© Café Babel

Uri Avnery ist israelischer Schriftsteller, Journalist und Gründer der Friedensbewegung Gush Shalom. Er war zehn Jahre lang Abgeordneter der Knesset.