Den Blick auf die Welt öffnen

„Globalisierung heißt, der Alltag ist von der Wahrnehmung von Weltproblemen durchdrungen“, sagt Dr. Ulrich Beck, renommierter Sozialwissenschaftler und Experte für Fragen der Globalisierung in einem Interview mit dem Magazin ‚Deutschland’.

Zum Thema Globalisierung sind Sie so etwas wie der “erste Kenner” des Trends, der in Deutschland von den Linken – genauso wie von den Konservativen – sehr kritisch betrachtet wird. Wie sehr leben wir schon heute in einer globalisierten Welt hier in Deutschland?

Ulrich Beck: Man könnte sagen, wir leben in einem im Innern globalisierten Land. In vielerlei Hinsicht wird Globalisierung häufig als etwas verstanden, was “draußen” stattfindet, was zusätzlich als eine Dimension, die man auch noch berücksichtigen muss, gilt. Aber was ich interessant finde, ist die Frage: wieweit globalisieren wir uns im Inneren? In Deutschland ist inzwischen jede sechste Ehe, die neu geschlossen wird, eine binationale Ehe. Und immer mehr neugeborene Kinder leben nicht unter homogenen Bedingungen von Elternschaft, sondern haben binationale Eltern. Das sind Indikatoren dafür, dass wir die Weltkulturen im eigenen Haus selbst präsent haben. Das heißt, dass wir viel stärker, als wir es in öffentlichen Diskussionen zugeben, schon globalisiert oder transnational leben. Insofern ist Globalisierung nicht nur etwas, was uns in Zukunft beschäftigt und was uns bedroht, sondern etwas, das aktuell stattfindet und wofür wir uns erst einmal die Augen öffnen müssen. Wir sollten uns daran gewöhnen, dass die Wirklichkeit, mit der wir es zu tun haben, eine transnationale oder eine kosmopolitische Wirklichkeit ist, in der sich die Kulturen neu mischen und in der die Grenzen, von denen wir ausgehen, dass sie fortexistieren, jedenfalls teilweise schon aufgehoben sind. Globalität heißt, der Alltag ist von der Wahrnehmung von Weltproblemen durchdrungen. Man kann im Alltag erkennen, dass man von Fragen betroffen ist, die nicht mehr nur an einen bestimmten Ort gebunden sind, sondern die die Zivilisation insgesamt berühren. Wir haben deswegen noch nicht die Lösungen für diese Fragen, aber das Bewusstsein, dass wir in der einen gefährdeten Welt leben, ist in immer mehr Lebenszusammenhängen präsent.

Wir verstehen eine globalisierte Welt als eine wirtschaftlich globalisierte Welt oder als eine politisch globalisierte Welt. Doch da drängt sich – gerade in dieser Zeit des Antiterrorkriegs –, ein Verdacht auf. Der Verdacht nämlich, es könnte sich bei dem Wort Globalisierung um eine nette Umschreibung für die Weltherrschaft der Supermacht USA handeln. Was ist, wenn man die Idee der Globalisierung zu Ende denkt? Kommt am Ende die Weltherrschaft des Mächtigsten?

Beck: Nein, die Weltbedingungen sind viel zu komplex, als dass man sich vorstellen könnte, dass sie von einer Macht wirklich beherrscht werden könnten. Wir haben es mit einer überkomplexen und durch und durch kontingenten Welt zu tun. Kontingent in dem Sinne, dass wir Entscheidungen treffen müssen, deren Folgen keiner kennt. Auch der Terror ist schließlich ein Beispiel dafür, dass die Supermacht gerade keine Supermacht ist. Sie war ja verletzlich. Die Erfahrung ist gerade umgekehrt die, dass die größte Militärmacht einen solch empfindlichen Gegenschlag nicht ausschließen konnte und auch in Zukunft nicht ausschließen kann. Genau das ist der Hintergrund für die militärischen Interventionen der USA. Und gerade der Terror ist ein Beispiel für die Unkontrollierbarkeit der Welt. Die Vorstellung, dass man durch Aufrüstung, durch Radarschirme, durch totale Kontrollen – nicht nur an den Flughäfen, sondern irgendwann auch in Supermärkten oder in allen Institutionen –, die Terroristen herausfiltern und ausschließen kann, ist wiederum das Beispiel dafür, wie man durch eine perfektionierte Vision von Kontrolle wahrscheinlich das Gegenteil erzeugt. Man wird auf diese Art und Weise zwar die Freiheiten unterminieren, möglicherweise sogar erdrosseln, aber trotzdem die Sicherheit, die man damit erzeugen will, nicht erlangen. Die Welt ist so komplex geworden, dass die Vorstellung einer Macht, in der alles zusammenläuft und zentralisiert kontrolliert werden kann, falsch ist.

Ist es so, dass die Anschläge vom 11. September diesen kosmopolitischen Blick befördert haben? Haben wir jetzt alle ein bisschen mehr die ganze Welt im Blick?

Beck: Teilweise ja, teilweise nicht. Zunächst einmal haben die Horrorbilder des 11. September eine enorme Solidarisierung ausgelöst. Außenpolitisch geriet die Welt in Bewegung. Und es war auch eine Zeit lang so, dass man sagte, die militärische Option ist eine unter vielen. Man muss den Dialog suchen, man muss den Ausgleich suchen. Gerade die westlichen Staaten sind ja heute nicht mehr abgrenzbar von den muslimischen Gesellschaften, denn sie haben sie selbst im Inneren. Sie sind im Inneren selbst globalisiert. Und deswegen müssen wir in dieser vernetzten Welt das Gespräch suchen. Wir müssen fragen, was für eine Stimme, die keine andere Möglichkeit sah, hat hier eigentlich um Gehör gebeten? Insofern war das eine ganze Zeit lang auch die Zwangsöffnung eines kosmopolitischen Blicks. Aber dann hat sich sehr schnell gezeigt, dass die zunächst als Metapher gedachte Antwort eines Krieges gegen den Terrorismus doch immer stärker ernst genommen wurde, in dem Sinne, dass man wirklich Krieg führt. Wobei es sich anfangs ja nicht um einen Krieg im üblichen Sinne handelte. Man kann auch keinen Frieden schließen mit Terroristen. Die Grenzen zwischen Krieg und Frieden sind aufgehoben. Gleichzeitig gab es keine identifizierbaren Gegner, die Uniform trugen. Sie waren überall präsent. Das genau bedeutet Globalisierung: diese netzwerkartigen Geflechte des Terrorismus. Gerade sie waren so beängstigend. Das heißt, im ersten Moment hat der globale Terrorismus eine Art von globaler Schicksalsgemeinschaft geschaffen, wie wir das bislang für unmöglich hielten.Wie schwierig die Verständigung zwischen den Kulturen aber zuweilen sein kann, haben Sie selbst erlebt – und zwar noch vor dem 11. September – als Sie in Helsinki eine internationale Konferenz über Kosmopolitismus eröffneten.

Beck: Das war die erste große Konferenz in den Sozialwissenschaften, bei der Sozialwissenschaftler aus allen Kulturen sich darüber verständigen wollten, ob wir nach wie vor den nationalen Weg in den Sozialwissenschaften gehen können, oder ob wir einen kosmopolitischen Weg brauchen. Ich war dann vollständig überrascht, welche Kontroverse dadurch ausgelöst wurde und welcher dramatische Widerspruch von Intellektuellen aus Südamerika, den arabischen Ländern und anderen Regionen des Südens mir entgegenschlug. In der Debatte wurde deutlich, dass diese Wissenschaftler eigentlich aus zweierlei Erfahrungen heraus argumentieren: Die erste ist, dass unser Gerede von der Globalisierung und den offenen Grenzen für sie gerade nicht zutrifft. Wenn sie nach Europa kommen, stoßen Sie auf immer weiter geschlossene Grenzen. Insofern ist die Vorstellung von offenen Grenzen eine Vorstellung, die sehr selektiv ist und die gerade die außereuropäische Erfahrung überhaupt nicht ernst nimmt. Und das Zweite ist, dass sie sich als Verlierer der Globalisierung sehen. Sie sehen sich als diejenigen, auf die alle Risiken der Globalisierung abgewälzt werden. Etwa dadurch, dass die europäischen Staaten nach wie vor nicht wirklich die Grenzen für Produkte aus diesen Ländern öffnen, was die Voraussetzung dafür wäre. Daher herrscht bei uns eine absolute Doppelmoral. Und dann gab es einen dritten Punkt, der zeigt, dass diese Wissenschaftler sich nicht mehr neuen Deutungen des Zentrums unterwerfen wollen. Kosmopoli-tismus scheint in ihrer Wahrnehmung als ein neuer Versuch des westlichen Imperialismus, der nun raffiniert die Idee der Andersheit der anderen propagiert, aber letzten Endes doch nur eine Variation dessen ist, was sie immer schon erleben mussten, nämlich dass die neuesten Ideen der Moderne in den Zentren Europas entwickelt werden und sie diejenigen sind, die diese Ideen auszuführen haben. Und erkennbar wurde auch, dass aus diesen Bedingungen von Ungleichheit und historischen Verletzungen und Erfahrungen ein Hass in der Welt ist. Ein tief sitzender Hass, der nicht so einfach zu überbrücken ist.

Was braucht man als Rüstzeug für die Globalisierung?

Beck: Man braucht Bildung. Man braucht eine Existenzsicherung, Arbeitsplätze und soziale Sicherheiten. Das sind Voraussetzungen, unter denen es vielleicht möglich wird auch mit solch komplexen Verhältnissen umzugehen. Wenn die ihrerseits gefährdet sind, wird es schwierig. Das ist auch die Erfahrung des 20. Jahrhunderts, wo etwa die Wirtschaftskrise der 30er Jahre den Menschen den Boden unter den Füßen weggerissen hat. Ich glaube, dass wir wieder in so einer Entwicklung liegen und nicht genau sagen können, wann die Menschen noch in der Lage sind, mit dieser Komplexität und Kontingenz umzugehen. Es ist nicht so, dass sie zu den alten Sicherheiten fliehen und sogar eine Renationalisierung oder Reethnisierung die Antwort auf die Herausforderung der Globalisierung wäre. Eine weitere politische Variante wäre, dass man wirklich den Wert zwischen-staatlicher Kooperation erkennt. Preisgabe von scheinbar nationaler Souveränität muss nicht ein Verlust von Souveränität sein, sondern kann ein Gewinn sein. Umweltfragen, Arbeitslosigkeit sind nicht im Alleingang zu lösen. Dafür bedarf es mindestens europäischer, möglicherweise darüber hinausgehender Lösungen.

Die Vielfalt der Kulturen, eine gewisse Provinzialität macht die Identität Europas aus. Was ist, wenn die Vielfalt im Zuge der Globalisierung sich auflöste? Zum Beispiel ist es in Paris leichter arabisch, asiatisch, afrikanisch oder Fastfood zu essen als französisch. Was also, wenn die Vielfalt Europas sich unter dem Diktum der Globalisierung schon auflöst?

Beck: Ich beispielsweise liebe Retsina, einen harzigen Wein aus Griechenland. Ein Wein, der aber offenbar gerade aufgrund dieser Harzigkeit den europäischen Normen nicht genügt. Man muss sozusagen den Harzgehalt reduzieren, damit er auf dem europäischen Markt angeboten und damit auch konsumiert werden kann. Das ist eine fatale Entwicklung. Es lebe der Retsina!, müsste man Europa entgegenhalten. Es lebe die Vielfalt, es lebe die Unterschiedlichkeit! Es lebe die Nische, die wir haben, die Provinzialität! Das macht Europa aus. Das ist auch die Idee des kosmopolitischen Europas. Aber wir sind immer noch vernarrt darin, ein europäisches Volk zu finden oder zu erfinden, das ähnlich wie im Nationalstaat die Homogenität Europas garantiert, und dann eine entsprechende Demokratie und einen zentralistischen Staat. Ich glaube, dass dies nicht nur falsch ist, dass es nicht nur nicht geht, sondern dass es auch nicht wünschenswert ist. Und dass gerade Europa diese Vielfalt verkörpert. Aber es gibt starke Bestrebungen, eine Homogenität zu erzielen – nicht nur im Politischen, sondern auch im Markt: Egal, ob man nun in Paris, München oder London einkauft, man findet immer dieselben Geschäfte und dieselben Waren. Die Verwurzelung im Ort, das was dort blüht und riecht und schmeckt, das geht verloren. Ich glaube, dass das eine Gefahr ist. Wir befinden uns an einer Weggabelung.

Das Gespräch führte Brigitte Neumann

Quelle: Deutschland 3/2003; © 2003

Ulrich Beck lehrt als Professor für Soziologie an der Universität München und gehört international zu den renommiertesten Sozialwissenschaftlern. Über die Fachkreise hinaus bekannt wurde er mit seinem Buch “Risikogesellschaft”. Mit dem Thema Globalisierung und ihren Folgen beschäftigt sich Ulrich Beck seit Jahren intensiv.