Bären lieben Honig

Am Ende findet die Berlinale wenigstens einen plausiblen Gewinner: die türkisch-deutsche Koproduktion "Bal" ("Honig") des Regisseurs Semih Kaplanoglu. Michael Althen hat den Film gesehen.

​​ Als sie ihre Imkergeschichte im Nordwesten der Türkei gedreht haben, erzählte der Regisseur Semih Kaplanoglu mit dem "Goldenen Bären" in der Hand, da sei einmal ein Bär gekommen, um sich am Honig in den Bienenstöcken gütlich zu tun, habe dann aber vor dem Team Reißaus genommen - nun sei der Bär auf dem Wege des Hauptpreises allerdings doch noch zurückgekommen. Und der deutsche Produzent fügte hinzu: "Bären lieben Honig."

Im Vorfeld wurde viel spekuliert, wie sich die Unberechenbarkeit des Jurypräsidenten Werner Herzog wohl auf die Preise auswirken würde, doch letztlich blieb ihm ohnehin kaum Raum, irgendeine aufsehenerregende Wahl zu treffen.

Die Darsteller- und Kamerapreise für den Russen sind vertretbar, die beiden Preise für den Rumänen wohl auch, Koji Wakamatsus Wagemut wurde wenigstens in Form der Hauptdarstellerin gewürdigt, und ob der Regiepreis für Polanski irgendwie als Zeichen gedeutet werden soll, hat die Jury zumindest nicht verraten. Vielleicht war sie einfach nur froh, dass jemand routiniert seine Geschichte heruntererzählt, ohne seine Zuschauer zu strapazieren.

Fremde Welt im Nordosten der Türkei

Es wurden also die schlimmsten Verirrungen vermieden und in "Bal" wenigstens ein plausibler Gewinner gefunden, der es schaffte, den Zuschauer auf Entdeckungsreise in seine fremde Welt eines Dorfes im waldigen Nordosten der Türkei mitzunehmen, wo ein rätselhaftes Bienensterben wütet und ein kleiner Junge mühsam das Lesen lernt.

Semih Kaplanoglu; Foto: AP
Nach 46 Jahren geht der "Goldene Bär" aus Berlin erstmals wieder in die Türkei: Regisseur Semih Kaplanoglu erzählt in "Honig" von einer Kindheit im ländlichen Anatolien.

​​ Semih Kaplanoglus Film ist der Abschluss einer Trilogie, die mit "Ei" begann, sich mit "Milch", der gerade bei uns im Kino lief, fortsetzte und nun mit "Honig" ihren Abschluss findet.

Der Held heißt immer Yusuf und wird dabei jedes Mal jünger, aber vielleicht ist er auch gar nicht immer die gleiche Person. Hier ist er jedenfalls acht Jahre alt, und seine Kraft bezieht der Film daraus, dass er zeigt, wie mühevoll sich der Kleine die Welt aneignet.

Mit dem Vater redet er fast nur flüsternd über Pflanzen und Tiere, die Mutter bleibt eine fremde Figur, die Mitschüler betrachten ihn als Eigenbrötler, und am besten scheint die stumme Kommunikation mit der Natur zu funktionieren.

"Bal" beharrt auf der Welt als ewigem Rätsel, das er in langen Einstellungen sichtbar machen möchte, und ist genau jene Art von Herausforderung, die einem Wettbewerb seine Spannung verleiht. Oder anders gesagt: Er war einer der wenigen Filme, die in diesem Wettbewerb überhaupt etwas verloren hatten.

Mittelmaß auf der Berlinale

Oder, um es noch mal anders zu sagen: Mit dem diesjährigen Wettbewerbsprogramm hat sich die Berlinale bis auf weiteres aus der Konkurrenz mit Cannes und Venedig verabschiedet - um sich irgendwo in der Liga von Locarno oder San Sebastián anzusiedeln.

​​Das deutete sich im Voraus schon an, als die Auswahl interessante Namen weitgehend missen ließ. Aber wer da noch auf Überraschungen hoffte, wurde schnell enttäuscht. Es war eigentlich noch schlimmer als befürchtet.

Nicht, weil die Filme alle so schlecht gewesen wären, sondern weil sie mit wenigen Ausnahmen alle von so mittlerer Güte waren, so bieder und ernst ihre Anliegen abfilmten, wie das bei der Berlinale unter Kosslick ja schon seit Jahren bevorzugt wird.

Manchmal hat man den Eindruck, dass sich Kosslicks Ambition im Wettbewerb darauf beschränkt, erst möglichst viele Filme mit Haftentlassenen zu häufen (Heisenbergs "Der Räuber", Vinterbergs "Submarino", Molands "A Somewhat Gentle Man"), um sich dann daran zu erfreuen, wenn eine argentinische Puzzlerin ("Rompecabezas") am nächsten Tag ihr Echo in "Mammuth" findet, wo Gérard Depardieu zur Pensionierung ein Puzzle geschenkt bekommt.

Medien im Blick

Womöglich denkt er, dass sich die Weltpresse begierig auf diese thematischen Vorlagen stürzt und sie mit Konzeption verwechselt.

Nun kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass der Wettbewerb nur zwanzig von gut vierhundert Filmen ausmacht und das Wohl eines Festivals, das sich wie die Berlinale als Publikumsfestival gefällt, davon nicht abhängen kann, solange die Zuschauer so begeistert die verschiedensten Sektionen bevölkern.

Diese Vielfalt, Offenheit und Popularität macht sicher auch zu einem guten Teil den Reiz der Berlinale aus, aber Filmgeschichte wird eben im Wettbewerb geschrieben. Und die Berlinale hat das mit ihrer Jubiläums-Retro ja auch bekräftigt.

Nun hat Cannes gewiss nicht jedes Jahr so viel Glück wie im letzten, und Venedig ist traditionell von wechselhafter Güte, aber noch nie hatte man dort so sehr den Eindruck wie hier, dass es nicht dem Weltkino, sondern der Auswahl an Ambition fehlt, irgendetwas Neues zu entdecken oder auch nur Anschluss zu halten an Entwicklungen oder Namen, zu denen man im Einzelnen stehen kann, wie man will, die aber zumindest von einer Mehrheit derer, die sich dafür interessieren, weltweit für relevant gehalten werden.

Dieter Kosslick ist ein Pragmatiker, ein gutgelaunter Macher, der das Festival ungemein belebt habt. Aber mit seiner Wettbewerbspolitik ist er in einer Sackgasse angelangt, aus der er offenbar nicht wieder herausfindet. Darüber kann auch ein Siegerfilm wie "Honig" nicht hinwegtäuschen.

Michael Althen

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2010

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