Kofferhandel

Anfang der 1990-er Jahre hatte niemand in der Türkei geglaubt, dass Istanbul Ziel von ausländischen Einwanderern werden würde. In den vergangenen Jahren sind jedoch zahlreiche Einwanderer aus Osteuropa in die Stadt gekommen. Sebnem Aksoy hat sich im Stadtteil Laleli umgeschaut.

Anfang der 1990-er Jahre hatte niemand in der Türkei daran gedacht, dass Istanbul Ziel von ausländischen Einwanderern werden würde. In den vergangenen Jahren sind jedoch zahlreiche Einwanderer aus Osteuropa nach Istanbul gekommen. Sebnem Aksoy hat sich im Stadtteil Laleli umgeschaut.

Straßenszene in Istanbul, Foto: AP

​​"Gecekondu" - "Die über Nacht Erbauten" - nennt man in der Türkei die provisorischen Unterkünfte aus Wellblechplatten, die vielerorts in Istanbul errichtet wurden. Seit den frühern 1970-er Jahren hält der Bevölkerungs-Boom der Großstadt Istanbul ungemindert an. In den besten Zeiten kamen monatlich Zehntausende in die Metropole an der Schwelle zwischen Europa und Asien. "Die Erde, die Steine sind aus Gold" - hieß die oft beschworene Devise, die viele herlockten.

Aber nicht nur Menschen aus dem Südosten der Türkei - aus Diyarbakir, aus Urfa oder Malatya - ließen sich vom Glanz Istanbuls anziehen: Nach dem Fall des Kommunismus kamen auch Neubürger aus osteuropäischen Ländern: vor allem aus Russland, Moldawien, der Ukraine sowie aus Rumänien und Bulgarien. Plötzlich standen sie mit ihrem spärlichen Hab und Gut in der Stadt am Bosporus.

Textilien und Lederwaren aus Istanbul

"Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Sowjetunion kamen sehr viele illegale Arbeiter in die Türkei", berichtet Nilüfer Narli, Soziologin an der Istanbuler Marmara-Universität. "Zusätzlich kamen so genannte 'Transit-Auswanderer', besonders aus den Bürgerkriegs-Ländern wie Bosnien oder Kosovo. Dies begünstigte auch den Handel: Aus der Ukraine, Russland, Polen und auch den zentralasiatischen Republiken kamen Menschen ohne Gepäck, kauften in Istanbul Textilien und Lederwaren im großen Stil ein und verkauften diese wiederum in den Herkunftsländern. So entstand in Istanbul eine Art von 'Transnational Community'. Diese Gemeinschaften begannen dann eine wichtige Rolle sowohl im Handel als auch in der Kultur zu spielen."

Die Medien prägten für die Geschäfte der Osteuropäer das Schlagwort "Kofferhandel". Die Händler konzentrierten sich in Laleli, einem alten Stadtteil Istanbuls auf der europäischen Seite des Bosporus. In kurzer Zeit wandelte sich das früher so beschauliche Viertel in einen boomenden Wirtschaftsstandort. Die Mieten stiegen ins Unermessliche.

Neue Kunden

Ayhan Karahan, Vorsitzender des örtlichen Unternehmervereins, sieht den Wandel des Stadtteils durchaus positiv:

"Anfang der 1990-er Jahre sahen wir uns mit einer neuen Kunden-Gruppe konfrontiert, die durch Einkäufe von Gütern den grenzüberschreitenden Handel neu ankurbelten. So hat sich eine neue Art des Handels etabliert - der so genannte "Kofferhandel". Diese Menschen haben in erster Linie Istanbul entdeckt und haben sich hier bei uns auf einem internationalen Markt mit vielen verschiedenen Sprachen und Kulturen getroffen."

Der lange Zeit inoffizielle "Kofferhandel" taucht inzwischen auch in offiziellen Statistiken auf: So wurde im Jahr 2002 ein Handelsvolumen von rund 4 Milliarden US-Dollar errechnet. 2003 könnte der Umsatz auf bis zu 4,5 Milliarden Dollar steigen.

Die Händler in Laleli reiben sich angesichts dieser Zahlen die Hände - doch es gibt auch eine Kehrseite der Medaille: Menschenhändler nutzten die Situation, um illegale Arbeiter für 200 bis 300 US-Dollar Lohn im Monat zu vermitteln.

Arbeitskraft zu Spottpreisen

Der Schwarzmarkt bringe die Gewerkschaften in eine schwierige Lage, meint die Soziologin Nilüfer Narli. "Dass sich in Metropolen wie Istanbul ein so riesiger Markt für illegal arbeitende billige Arbeitskräfte entwickelt hat, hat auch der Arbeiterbewegung in der Türkei geschadet. Man kann sagen, dass Arbeitskraft plötzlich für einen Spottpreis zu haben war - und dadurch wurden die Gewerkschaften torpediert."

Und: Laleli wurde auch zu einem inoffiziellen Rotlicht-Viertel. Nicht wenige Frauen, die versuchten, eine Stelle als Dienstmädchen zu bekommen, landeten schließlich als Prostituierte auf dem Straßenstrich oder in billigen Hotels. In der türkischen Schickeria wurden moldawische Haushälterinnen für 300 Dollar im Monat herumgereicht. Der russische Mädchen-Name "Natascha" steht inzwischen als Synonym für osteuropäische Prostituierte.

Kleinstaat mit eigenen Gesetzen

Der Regisseur Kudret Sabanci hat sich in seinem Spielfilm "Eine Heilige in Laleli" mit der Situation dieser Frauen beschäftigt. "Nachdem der Ostblock zusammengebrochen war", so Sabanci, "hat der Zuzug in die Türkei nicht nur 'Kofferhandel' hervorgebracht, sondern auch Frauenhandel. In Laleli ist dadurch eine andere Kultur entstanden. Es hat sich ein kleiner Staat entwickelt, mit eigenen Gesetzen, mit eigener Wirtschaft. Dieser hat wiederum seine eigene Kultur erzeugt, eine eigene Vorstadt-Kultur. Wir haben uns entschlossen, dies filmisch aufzubereiten. Und wir haben gesehen: Was wir von außen beobachtet hatten, war nicht mal ein kleiner Teil dessen, wie man hier lebt. Der Film zeigt die harte Wahrheit. Die Hauptdarstellerin kam übrigens aus Rumänien - und sie hat diese 'Wahrheit à la Balkan' auch am eigenen Leib erleben müssen."

Durch die osteuropäischen Prostituierten habe in der Türkei ein tief greifender sozialer Wandel stattgefunden, erzählt die Soziologin Nilüfer Narli: "Prostitution ist natürlich jetzt ein Thema. Anfang der 1990-er Jahre sind viele Frauen aus osteuropäischen Ländern in die Prostitution abgeglitten. Dadurch ist das Verhältnis zwischen türkischen Männern und Frauen anders geworden: Es gibt Männer, die mit diesen Prostituierten Beziehungen eingegangen sind, ihnen Wohnungen bezahlen, ja, einige haben sich sogar von ihren Ehefrauen scheiden lassen und Prostituierte geheiratet. Dies hat natürlich kulturelle und soziale Auswirkungen."

Sebnem Aksoy

© 2003, Deutsche Welle