Unfaire Berichterstattung

Die drei bekannten deutsch-türkischen Autorinnen Seyran Ates, Necla Kelek und Serap Cileli werden seit Ende Februar von der Deutschland-Ausgabe der türkischen Tageszeitung "Hürriyet" diffamiert. Hintergründe von Uta Rasche

Die drei bekannten deutsch-türkischen Autorinnen Seyran Ates, Necla Kelek und Serap Cileli werden seit einiger Zeit von der Deutschland-Ausgabe der türkischen Tageszeitung "Hürriyet" diffamiert. Hintergründe von Uta Rasche

​​Jeden Abend, wenn um 17.45 Uhr die Druckmaschinen in Mörfelden-Walldorf zu rotieren beginnen, können die acht Redakteure der Europa-Ausgabe der "Hürriyet" für einen Moment Luft holen. Andere halten dann den Atem an. Die drei deutsch-türkischen Autorinnen Seyran Ates ("Große Reise ins Feuer"), Necla Kelek ("Die fremde Braut") und Serap Cileli ("Wir sind eure Kinder, nicht eure Ehre") werden seit Ende Februar von "Hürriyet" verunglimpft.

"Mittlerweile ist die Stimmung in der türkischen Gemeinschaft ziemlich aufgebracht gegen mich", sagt die Berliner Rechtsanwältin Ates. Die Frauenrechtsorganisation "Terre des Femmes" spricht gar von einer "Gefährdung dieser Frauen" durch die Artikel.

Alle drei beschreiben in ihren Büchern das Gefangensein türkischer Mädchen im engen Ehrenkodex ihrer Familien, die Unterdrückung türkischer Frauen durch ihre Männer und die ihren Recherchen nach auch unter Türken in Deutschland weit verbreiteten "arrangierten Ehen" und Zwangsheiraten. Zum Teil fußen die Bücher auf Interviews und soziologischen Studien, zum Teil auf autobiographischem Material.

So berichtet etwa Cileli in ihrem Buch, wie sie selbst als junges Mädchen zwangsverheiratet wurde und sich dagegen wehrte. Das Thema ist aktuell - spätestens seit dem "Ehrenmord" an der jungen Berliner Türkin Hatun Sürücü Anfang Februar auf offener Straße.

"Hürriyet" ist mächtig

"Hürriyet" ist die auflagenstärkste Tageszeitung in der Türkei mit dort etwa 500.000 verkauften Exemplaren. Ihre Europa-Zentrale befindet sich sechs Kilometer südlich des Frankfurter Flughafens. Von dem modernen Redaktions- und Druckereigebäude in Walldorf aus werden nach eigenen Angaben 71.000 Exemplare in ganz Europa verkauft, davon 52.000 in Deutschland. Damit ist "Hürriyet" auch unter den türkischen Zeitungen in Deutschland Marktführer.

Die Reichweite des konservativ-nationalistischen Boulevardblattes unter den Türken in Deutschland ist enorm. Nach einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) aus dem Jahr 2002 hatten vierzig Prozent der Befragten die Zeitung in den vergangenen zwei Wochen, 14 Prozent am Tag zuvor gelesen. "Hürriyet" ist mächtig.

So mächtig, daß selbst etablierte Deutschtürken in herausgehobenen Positionen es vorziehen, ihren Namen nicht zu nennen, wenn die Rede auf "Hürriyet" kommt: "Wer sich kritisch über 'Hürriyet' äußert, wird so übel beschimpft, daß ich dazu nichts sagen möchte."

Zur Zielscheibe von Kampagnen von "Hürriyet", deren Name übersetzt "Freiheit" bedeutet, wurden in der Vergangenheit auch deutsche Politiker: Gerhard Schröder zum Beispiel, der sich als Ministerpräsident von Niedersachsen für einen Abschiebestopp für kurdische Flüchtlinge einsetzte.

Der türkischstämmige frühere Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir (Grüne), als er gleiche Rechte für die alevitische Religionsgemeinschaft forderte und die Türkei für ihren Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern kritisierte.

Besuch beim Bundespräsidenten

Die regelmäßigen Angriffe rissen erst ab, als der Verleger von "Hürriyet", Aydin Dogan, im Sommer 2001 beim damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau eingeladen war. Vertreter des Bundespresseamtes, des Innenministeriums und eben Rau sprachen mit dem türkischen Medienzaren, dem auch mehrere Fernsehkanäle und weitere Zeitungen wie "Milliyet" und das Sport-Blatt "Fanatik" gehören.

Wie es heißt, verdeutlichten sie ihr großes Interesse an einer fairen, den Maßstäben westlicher journalistischer Ethik entsprechenden Berichterstattung über deutsche Politik und deren Personal. Kurz darauf entband Dogan den Leiter der Deutschland- Ausgabe von "Hürriyet", Ertug Karakullukcu, von seinem Posten. Karakullukcus Kommentare, die als deutschlandfeindlich und integrationshemmend galten, fanden keinen Weg mehr ins Blatt.

Der neue Chefredakteur Ertugrul Özkök ist deutschland- und europafreundlich; in der EU-Beitrittsdebatte vertrat "Hürriyet" den Kurs der türkischen Regierung mit dem Ziel, möglichst schnell Beitrittsverhandlungen aufzunehmen.

Natürlich wurden die Unionsvorsitzenden Merkel und Stoiber für ihr Ziel einer "privilegierten Partnerschaft" mit der Türkei kritisiert. Doch mit der journalistischen Ethik ist es seither besser bestellt: Rügen des Presserates für Beiträge aus dem Deutschland-Teil, die es zuvor regelmäßig gab, wurden seit 2001 nicht mehr ausgesprochen.

Weiterhin Kampagnen gegen Türken

"Liberaler" ist die Deutschland-Ausgabe also schon geworden - aber offenbar nur gegenüber Deutschen. Denn Kampagnen gibt es noch immer. Der stellvertretende Chefredakteur der Deutschland-Ausgabe, Ayhan Can, bestreitet das zwar: "Wir führen keine Kampagnen und wollen schon gar keine Politik machen, sondern eine gute Zeitung."

Aber die drei Autorinnen Ates, Kelek und Cileli haben andere Erfahrungen gemacht. Ende Februar berichtete "Hürriyet" über Buchvorstellungen von Cileli und Kelek und titelte sinngemäß, beide Autorinnen hätten die türkischen Männer zu Schlägern erklärt.

Mitte März folgten Berichte, nach denen sich angeblich die Familie Cilelis an die Redaktion gewandt hatte, um die Wahrheit über die "Zwangsheirat" zu erzählen. Tatsächlich habe das damals 15 Jahre alte Mädchen freiwillig geheiratet. Wie zum Beleg druckte "Hürriyet" ein Hochzeitsfoto von Cileli, auf dem die Braut lächelte. "Sieht sie aus, als ob sie zwangsweise verheiratet worden wäre?" fragte "Hürriyet" sinngemäß in großen Lettern.

Nur weil sie ein Buch mehr verkaufen wolle, erzähle die Autorin solche Geschichten: "Ich fühle mich persönlich bedroht. Wenn mir oder den anderen beiden etwas zustößt, ist 'Hürriyet' dafür verantwortlich. Wie diese Zeitung mit meiner Biographie umgeht, führt aber dazu, daß andere Frauen und Mädchen entmutigt werden."

Zeitung für bildungsferne Schichten

Seyran Ates, die als Anwältin türkische Mandantinnen vertritt und um pointierte Aussagen nicht verlegen ist, bekommt die Gegnerschaft der "Hürriyet" ebenfalls deutlich zu spüren. Türken in der Türkei sind nach Ates' Ansicht fortschrittlicher als die meisten Türken in Deutschland - das liege zum einen daran, daß zumeist die weniger Gebildeten einreisten, aber auch an der Abschottung der Migranten untereinander. "Hürriyet" bediene eben diese "nicht besonders lesegewandten und bildungsorientierten Schichten", sagt sie.

Die Zeitung warf ihr sinngemäß vor, türkische Frauen zu beleidigen, die türkische Gemeinschaft schlechtzumachen und durch Verallgemeinerungen Vorurteile der Deutschen gegenüber Türken zu erhärten. Insbesondere Ates' Aussage in einem Gespräch mit der "Tageszeitung", daß zwangsverheiratete Frauen "Sklavinnen auf dem muslimischen Ehemarkt" seien, erregte den Widerspruch von "Hürriyet".

Als sie überdies sagte, viele türkische Mädchen müßten sich "auf Analverkehr mit Jungs einlassen", weil dies die Jungfräulichkeit schütze und als beste Verhütungsmethode gelte, war die Empörung perfekt.

"Hürriyet" druckte eine Reihe von Kurzinterviews mit Türkinnen, die Ates heftig kritisierten. Am 11. März veröffentlichte die Zeitung ein Gespräch mit Ates, in dem sie angeblich zugab, mißverstanden worden zu sein. Sie habe nicht pauschalisieren wollen, sondern sich ausschließlich auf ihre Mandantinnen bezogen - ein öffentlicher Rückzieher.

Ates sagt heute: Es habe zwar ein Gespräch mit "Hürriyet" stattgefunden, doch das Interview sei nicht autorisiert worden. "Ich habe eine Entschuldigung von 'Hürriyet' verlangt, nicht umgekehrt. Was ist das für ein Journalismus?"

"Ihr Ungläubigen seid schlecht"

Die Hamburger Soziologin Necla Kelek erklärt sich die Reaktion der Zeitung so: "Türken dürfen nichts Schlechtes über Türken sagen und schon gar nicht gegenüber Deutschen." Immer schwinge der Gedanke der muslimischen "Umma" mit: "Wir Muslime sind gut, ihr Ungläubigen seid schlecht."

Kelek hingegen meint, daß die Türken nach vierzig Jahren hier "endlich die deutsche Gesellschaft auch als ihre eigene akzeptieren müssen, anstatt sich nur der ökonomischen Vorteile und der Sozialsysteme zu bedienen und auf alles andere zu schimpfen".

In der Türkei-Ausgabe der "Hürriyet" ist die Ursachenforschung zum Thema "Gewalt in der Familie" hingegen kein Tabu. Seit dem Herbst vergangenen Jahres läuft dort auf Initiative der Tochter des Verlegers eine große Kampagne mit Plakaten, einem Informationsbus, der durch Istanbul und über Land fährt, Fachgesprächen in der Zeitung und einer Telefon-Hotline.

Kein Interesse an differenzierter Auseinandersetzung

Auf Wunsch von Dogans Tochter soll die Kampagne von Mitte April an auch in Deutschland laufen, zunächst in fünf großen Städten. Anfang Dezember fanden Vorgespräche dazu statt, an denen auch Mitarbeiter des Bundesfamilienministeriums und von "Terre des Femmes" teilnahmen.

Die Frauenrechtsorganisation hat jedoch aufgrund der Berichterstattung in den vergangenen Wochen in einem Brief an "Hürriyet" die Zusammenarbeit bei der Kampagne gegen häusliche Gewalt in Frage gestellt. "Irritierend und kontraproduktiv" seien die Artikel; sie zeigten, daß die Zeitung an einer "differenzierten Auseinandersetzung nicht ernsthaft interessiert" sei.

Bundesfamilienministerin Schmidt (SPD), die auf Wunsch von "Hürriyet" die Schirmherrschaft übernehmen sollte, lehnte ab - aus Termingründen. Abgesehen davon sei man nicht besonders glücklich über den Tenor der Berichterstattung, hieß es im Ministerium.

Konkurrenz zu Satellitenfernsehen?

Wie paßt das zusammen - der aufklärerische Impetus von "Hürriyet" in der Türkei und die an den patriarchalen Strukturen der Einwanderergesellschaft orientierte Haltung der Deutschland-Ausgabe? Vielleicht ist es Marktkalkül: Angesichts der wachsenden Konkurrenz durch Satellitenschüsseln könnte man meinen, so den Geschmack des konservativen Migrantenmilieus besser zu treffen.

Vielleicht ist es personelle Kontinuität: Wie es aus Kreisen des Dogan-Verlages in der Türkei heißt, wirkt der auf deutschen Druck hin abgelöste Chefredakteur Karakullukcu in Istanbul immer noch als Berater seines Nachfolgers.

Auch in anderer Hinsicht hat sich Ernüchterung über den Kurswechsel von "Hürriyet" eingestellt. Die deutschsprachige Beilage (Musik, Szene, Bildung und Ausbildung), die einmal in der Woche erscheint, wurde bei ihrem Start als großer Integrationsbeitrag gefeiert. Doch die Hälfte der acht Seiten gibt nur das Fernsehprogramm wieder - immerhin das deutsche.

Uta Rasche

© Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.04.2005

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