Ein Tod fast ohne Echo

In der arabischen Welt blieben Reaktionen auf den Mord an dem Filmemacher Theo van Gogh weitgehend aus. Hassan Dawud, Schriftsteller und Feuilletonchef der libanesischen Tageszeitung "Al-Mustaqbal", geht den Gründen nach.

In der arabischen Welt blieben Reaktionen auf den Mord an dem holländischen Filmemacher Theo van Gogh weitgehend aus. Hassan Dawud, Schriftsteller und Feuilletonchef der libanesischen Tageszeitung "Al-Mustaqbal", geht den Gründen für diese Indifferenz nach.

Beerdigung des holländischen Filmemachers Theo van Gogh, Foto: AP
Beerdigung des holländischen Filmemachers Theo van Gogh

​​Der Mord an Theo van Gogh hat in der arabischen Presse kein besonderes Interesse hervorgerufen. Man beschränkte sich auf die Berichterstattung über die Tat und deren Folgen, wie die Brandstiftung an Moscheen in Holland und die Demonstrationen in Deutschland.

Vielleicht empfindet der arabische Leser die europäische Reaktion auf dieses Verbrechen - sowohl diejenige der Politiker wie auch die der breiteren Bevölkerung - als übertrieben, denn vielen hier gilt der Mord eher als ein Einzelfall. Allenfalls wurde in Talkshows (nicht aber in der seriösen Tagespresse) Missbilligung des Umstandes laut, dass die holländische Regierung in der Folge dieses Ereignisses gezwungen sein werde, ihren Umgang mit Migranten zu überdenken.

In der arabischen Welt hätte man ein vergleichbares Ereignis vermutlich nach wenigen Tagen vergessen, und es hätte keine Folgen gezeitigt. Wesentlich schlimmere Zusammenstösse ereignen sich, aufgrund deren zehn, zwanzig, Hunderte von Menschen sterben, ohne dass dies irgendeine Diskussion auf den Titelseiten auslöst oder eine Regierung sich veranlasst sähe, ihre Politik zu überdenken.

Dazu gehören beispielsweise Auseinandersetzungen konfessioneller oder ethnischer Natur, die die Verantwortlichen gar nicht so schnell abtun können, wie sie wieder hochkommen. Diese Probleme tauchen nicht in den schriftlichen Debatten auf.

Bestenfalls begnügt man sich mit einer kleinen Zeitungsmeldung, in der dann zu lesen steht, das Vorgefallene beruhe lediglich auf einem Missverständnis und dank der Besonnenheit, deren sich unsere offiziellen und geistlichen Verantwortlichen erfreuen, sei der Konflikt erfolgreich im Keim erstickt worden.

Nicht Teil der arabischen Diskussion

Der Mord an Theo van Gogh gehört zu den Ereignissen, die in der arabischen Welt nicht in die schriftlichen Debatten gelangen. So etwas ist nicht Teil der Diskussion und der dort behandelten Themen - jener Themen, die daraufhin begrenzt und zugeschnitten werden, dass sie samt und sonders in einem nichtindividuellen Bereich liegen.

Was bei uns verhandelt wird, sind "allgemeine" Probleme, die sich entweder auf das Kernthema des arabisch-israelischen beziehungsweise arabisch-amerikanischen Konfliktes zurückführen lassen, oder Grundsatzfragen wie die Debatte um Modernisierung und Demokratie, Fortschritt und Rückständigkeit.

Wollte man über detailliertere Fragen nachdenken, so wäre dafür eine Sprache vonnöten, die wir noch gar nicht beherrschen. Wir wissen zum Beispiel nicht, ob das Lager von Guantánamo oder der Skandal von Abu Ghraib auf eine Art reflektiert werden könnten, die darüber hinausgeht, dass man seine Wut ausdrückt und das Geschehene verurteilt.

Es sind die gleiche Wut und die gleiche Verurteilung, die wir äussern, wenn wir in den Nachrichtensendungen die wachsende Zahl ziviler Opfer im Irak und unter den Palästinensern sehen.

Die Sprache des Zorns

Wut und Verurteilung sollten, dem in der arabischen Welt vorherrschenden Empfinden nach, absolut und vollständig sein, so dass man darüber nicht mehr diskutiert - so absolut und vollständig, dass schon der Versuch, darüber zu diskutieren, eine Missachtung des vergossenen Blutes bedeuten würde.

Einzig Wut und Verurteilung also. Die Debatte um die Gefangenen von Guantánamo und Abu Ghraib findet in der ausländischen Presse statt, der wir selektiv Sätze und Zusammenfassungen entnehmen, die wir dann in unseren Zeitungen veröffentlichen, um beispielsweise sagen zu können: Seht, wie die Täter ihre Verbrechen eingestehen.

Der Mord an Theo van Gogh ist verwirrend und komplex, denn er ruft weder Wut hervor, noch verurteilt man ihn. Täter und Opfer sind beide Teil dieser Verwirrung, denn es ist zuerst einmal so, dass der Täter (zunächst) auf der schwachen Seite steht und der Getötete (zunächst) auf der starken.

Wir stehen hier nicht vor dem üblichen Szenario, in dem der westliche "Fremde" den arabischen "Verwandten" tötet. Der junge Marokkaner Mohammed Bouyari steht zwischen der Rolle des Mörders und der des Rächers.

Was van Gogh angeht, so sehen ihn die wenigen, die Gelegenheit hatten, in Beirut seinen Film "Submission" zu sehen (in einer Privatvorführung selbstverständlich), nicht nur als ein Opfer, denn ihrer Meinung nach hat er hasserfüllt mit den Tabus anderer sein Spiel getrieben.

Ein Problem der "anderen"

Dazu kommt, dass der Mord an van Gogh, einmal abgesehen von dem, was er an Nachdenken und Kopfzerbrechen auslöst, hier als ein Problem der "anderen" - der Holländer zum Beispiel - gilt, nicht als eines, das beispielsweise Marokko oder die islamische Welt generell betrifft.

Mohammed Bouyari und seine Tat scheinen uns weit entfernt, denn der Fall van Gogh steht in keinerlei Beziehung zu den drängenden Problemen hier.

Deshalb denken wir über ihn nicht viel anders als über sonstige europäische Angelegenheiten. Sogar die Abschlachtung der Geiseln im Irak wirkte auf die Zuschauer in den arabischen Ländern, als sei sie für die Familien der westlichen Opfer bestimmt, für den Export sozusagen. Deshalb schalteten die hiesigen Zuschauer sofort um oder wandten sich mit Grauen von diesen Szenen ab, ohne sich dadurch direkt betroffen zu fühlen.

Es gab hier keine Diskussion um die Hinrichtung der Geiseln mit dem Schwert, beziehungsweise beschränkte sich die Debatte auf einige Stimmen, welche die Hinrichtungen unter religiösen Aspekten diskutierten.

Verurteilt wurden diese Szenen lediglich von Rechtsgelehrten, die entsprechende Urteile fällen können. Die anderen massgeblichen Persönlichkeiten schwiegen, als gehörte die Kommentierung solcher Untaten nicht zu ihrer Aufgabe.

Keiner von "uns"

Der Mord an Theo van Gogh hätte in der arabischen Welt vermutlich mehr Aufsehen verursacht, wenn sein Film einem grösseren Publikum bekannt gewesen wäre. Eine solche Aufregung wäre freilich wohl nicht zugunsten des Getöteten gewesen, denn der Inhalt seines Films war genau das, was hier den kollektiven Zorn erweckt und viele dazu gebracht hätte, den Mörder zu rechtfertigen und ihn vielleicht als jemanden zu betrachten, der für sie Rache genommen hätte.

Solange aber Form und Aussage von "Submission" hier weitgehend unbekannt sind, wird man die Tat Mohammed Bouyaris als ein Problem der "anderen" ansehen. Marokko hat keine diplomatischen oder moralischen Verwicklungen zu befürchten, da der Täter, dessen Eltern schon als Migranten nach Holland kamen, nicht mehr in der Verantwortung des Herkunftslandes steht.

Das gilt aus arabischer Sicht nicht nur für Mohammed Bouyari, sondern für alle Migranten - jene Menschen, die sich auf Flughäfen und überfüllten Schiffen drängen und uns das Gefühl geben, sie seien nicht aus der Mitte, sondern vom Rande ihrer Gesellschaft herabgefallen. Niemand kümmert sich um sie oder darum, dass sie ihr Land verlassen haben. Sie sind überflüssig in ihren Heimatländern, in denen es auf einen mehr oder weniger nicht ankommt.

Der junge Mann, der Theo van Goghs Leben nahm, stammt also von "dort" - auch wenn er durch diese Tat eine Überzeugung verteidigt hat, die "hier" in der islamischen Welt wurzelt und die er sich während seines Lebens "dort" bewahrt hat.

Hassan Dawud

Aus dem Arabischen von Michaela Kleinhaus

© Neue Zürcher Zeitung, 28. Dezember 2004