Eine türkische Ringparabel

Zülfü Livaneli, Foto: Bongarts/Getty Images
Zülfü Livaneli, Foto: Bongarts/Getty Images

Der türkische Komponist, Sänger und Autor Zülfü Livaneli beleuchtet in seinem neuen Roman "Serenade für Nadja" eindrucksvoll die deutsch-türkische Vergangenheit im Kontext eines Flüchtlingsdramas und einer Liebesgeschichte. Astrid Kaminski hat das Buch gelesen.

Eine Armeekarriere und eine armenische Großmutter, das scheint so manchem in der Türkei der Jahrtausendwende unvereinbar. So auch dem Bruder der Protagonistin Maya in Zülfü Livanelis jüngstem Roman "Serenade für Nadja".

Maya soll daher über dieses Thema in der Öffentlichkeit schweigen, obendrauf bekommt sie noch heftige armenische Verschwörungstheorien vom ungleichen Bruder serviert. Die Dramaturgie ist deutlich: Die Kluft zwischen den Geschwistern steht für eine Kluft innerhalb der Gesellschaft. Auf der einen Seite Nationalisten, sei es kemalistischer oder islamistischer Prägung, auf der anderen eine weltliche, weltoffene Mittelschicht.

Doch bei dieser offensichtlichen gesellschaftlichen Spaltung, die auch bei den jüngsten Protesten gegen Erdoğan wieder deutlich wurde, belässt es Livaneli nicht. Mit seinem neuen Roman hat er sich nichts weniger als eine türkische Ringparabel vorgenommen.

Schlaglicht auf das moderne und korrupte Istanbul

Buchcover Zülfü Livaneli: 'Serenade für Nadja' im Verlag Klett-Cotta
Bestseller in der Türkei: Zülfü Livanelis "Serenade für Nadja" wurde in der Türkei zum Erfolgsbuch und nach Zählung des Autors inzwischen schon "fast eine Million Mal gelesen", so Livaneli.

​​Während der Kern der Thematik in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückreicht, spielt die Rahmenhandlung im so modernen wie korrupten Istanbul der Jahrtausendwende, wo die Prominenz auf dem Standstreifen der verstopften Autobahnen dahinbraust, Geheimdienste zur Sanierung des Nationalismus unterwegs sind, und 14-Jährigen im Internet ihre Pubertät entgleist.

In letzterem Punkt bringt der Autor den Leser allerdings etwas durcheinander. 2001, das ist genau das Jahr der Rahmenhandlung, kann es in der Istanbuler Mittelschicht weit weniger digitalisiert zugegangen sein, als es im Buch der Fall ist.

Näher an historisch verbürgter Realität sind dagegen die Schilderungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, die den Kern des Romans bilden. Die Ausführungen zum berüchtigten NS-Spion Cicero, zum türkischen Umkreis des Hitler-Botschafters Franz van Papen oder den Scurla-Berichten – Protokollen über die Aktivitäten von akademischen Emigranten in der Türkei – verknüpfen so interessant wie aufschlussreich bekannte mit weniger bekannten historischen Fakten.

Auch zum Internationalen Suchdienst im deutschen Bad Arolsen, einem Archiv über NS-Verbrechen, führen die Recherchen von Maya, eine der Hauptfiguren des Buches. Die 36-jährige alleinerziehende Mutter und Akademikerin betreut ausländische Gäste der Istanbuler Universität. So trifft sie auch auf den betagten Professor Maximilian Wagner, einen Amerikaner deutscher Abstammung.

Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs fand der Romanheld, wie eine ganze Reihe realer namhafter Deutscher – beispielsweise der spätere Berliner Bürgermeister Ernst Reuter – in der Türkei Zuflucht und Beschäftigung. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände gelang Wagner die Flucht nach Istanbul, jedoch nur ohne seine jüdische Ehefrau Nadja.

So lässt ihn der Autor alles Menschenmögliche unternehmen, um Nadja zu retten. Mit Hilfe eines falschen Taufscheins, den ihm der historisch verbürgte Pater Roncalli, der spätere Papst Johannes XXIII, ausstellt, soll Nadja einreisen dürfen. Ihre Reise in die Türkei erfolgt nun aber auf der "Struma", einem Flüchtlingsschiff, das von einem russischen Torpedo im Schwarzen Meer versenkt wurde, und für dessen Schicksal – und damit dasjenige von fast 800 jüdischen Exilanten – gleich mehrere Staaten verantwortlich zeichnen.

Lebensretterin Maya

Lange Zeit später, am Ende seines Lebens – und hier treffen sich die zwei Geschichten – kehrt Wagner aus den USA in die Türkei zurückkehrt, um am Ufer des Schwarzen Meeres seine für Nadja komponierte Serenade zu spielen. Die Protagonistin und Ich-Erzählerin Maya rettet ihm dabei nicht nur das Leben, sondern reflektiert, durch die Ereignisse in Aufruhr gebracht, ihre eigene Familiengeschichte.

Auch ihre beiden Großmütter haben schlimmste Menschenrechtsverletzungen erlebt, die eine als christliche Armenierin, die andere als muslimische Krimtatarin. So wie Nadja auf dem Taufschein zu Katharina wurde, mussten auch die Großmütter ihre Namen ändern, um in der türkischen Gesellschaft überleben zu können.

Für die Geschichte der "Struma" und der Armenier konnte Livaneli bereits mehr und mehr erschlossenes Terrain betreten. Die türkisch-armenischen Familiengeschichten sind unter anderem durch Fethiye Cetins biographische Erzählung "Meine Großmutter" ("Anneannem", 2004) in der türkischen Öffentlichkeit zum Thema geworden, und die Geschichte der "Struma" wurde vom türkischsprachigen, deutschen Schriftsteller Doğan Akhanlı bereits zum Roman verarbeitet.

Unverarbeitetes Leid

Ernst Reuter; Foto: picture-alliance
13 Jahre im türkischen Exil: Ernst Reuter emigrierte während der NS-Zeit in die Türkei und kehrte erst nach Kriegsende nach Berlin zurück. 1950 wurde er zum ersten Regierenden Bürgermeister West-Berlins gewählt.

​​Mit dem Fall der turkstämmigen Krimtataren hat Livaneli dagegen eine noch wenig bekannte Tragödie des Zweiten Weltkriegs recherchiert. Ein Teil der diskriminierten Krimtataren kämpfte damals teils als NS-Kollaborateure gegen die Rote Armee. Nach Kriegsende wurde das Volk unter indirektem Mitwirken der Türkei grausamster Kollektivstrafen unterzogen.

So gibt es im türkischen 20. Jahrhundert auf Seiten aller drei abrahamitischer Religionen unverarbeitetes Leid. Geschichtsaufarbeitung, das scheint uns der Autor – zuweilen recht didaktisch – in seinem ansonsten spannenden Roman vermitteln zu wollen, ist keine Sache von Schuldzuweisungen, sondern eine Tat der Menschlichkeit.

Als aber bei der Berliner Lesung das Thema auf die Armenier gelenkt wird, und der Moderator Osman Okkan in der Zusammenfassung der Gesprächsübersetzung mit Livaneli einmal "Massaker" statt "Massenvertreibungen" sagt, ist das Geschrei im Saal, wie so oft in diesem Zusammenhang, groß.

Dieses Mal sind es offenbar türkischstämmige Frauen, die sich darüber empören, dass man der Türkei mit einer solchen Formulierung einen Genozid unterstellen könnte. Offenbar braucht es noch mehr Romane wie diesen, um Nationalismen als geschichtliche Verantwortung und nicht als Persönlichkeitsersatz zu verstehen.

Dabei wurde "Serenade für Nadja" in der Türkei zum Erfolgsbuch und nach Zählung des Autors inzwischen schon "fast eine Million Mal gelesen, die Familienangehörige der Käufer mitgerechnet".

Astrid Kaminski

© Qantara.de 2013

Zülfü Livaneli: "Serenade für Nadja". Aus dem Türkischen von Gerhard Meier, Verlag Klett-Cotta Stuttgart 2013. 336 Seiten

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de