Schwierige Suche nach Nachkriegsordnung für Gazastreifen

Terroristen der Hamas feuerten seit dem 7. Oktober Tausende Raketen auf Israel ab - hier zerstörte Fahrzeuge in der Küstenstadt Aschkelon (Archivbild).
Terroristen der Hamas feuerten seit dem 7. Oktober Tausende Raketen auf Israel ab - hier zerstörte Fahrzeuge in der Küstenstadt Aschkelon (Archivbild) (Foto: Ilia Yefimovich/dpa/picture alliance)

* Palästinensischer Ex-Sicherheitschef Dahlan im Gespräch
* US-Unterhändler: Stehen erst am Anfang
* Biden fordert "Vision"

Washington/Tel Aviv. Experten aus den USA, arabischen Staaten und Nahost-Diplomaten sind sich einig: Israel riskiert einen langen und blutigen Aufstand im Gazastreifen, wenn es nicht ein überzeugendes Nachkriegs-Konzept für das Gebiet vorlegt. Von Samia Nakhoul, Humeyra Pamuk und Matt Spetalnick (Reuters)

Einige arabische Länder und westliche Staaten sehen in der Palästinensische Autonomiebehörde (PA) den natürlichen Kandidaten, um das Machtvakuum nach einer militärischen Niederlage der radikal-islamischen Hamas in dem Küstenstreifen mit 2,3 Millionen Einwohnern zu füllen. Allerdings hat Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erst am Wochenende erklärt, die PA sei nicht in der Lage, die Kontrolle über den Gazastreifen zu übernehmen.

Die PA, die von der Fatah-Partei des Palästinenser-Präsidenten Mahmud Abbas geführt wird, regierte bis 2007 im Gazastreifen. Damals wurden ihre Vertreter und Fatah-Anhänger aus dem Küstenstreifen in einer blutigen Revolte von Hamas-Kämpfern vertrieben. Seitdem hat die PA nur in bestimmten Bereichen des von Israel besetzten Westjordanlands das Sagen. Der 87-jährige Abbas gilt nicht als Hoffnungsträger.

Palästinenser werfen ihm vor, zu wenig gegen jüdische Siedlungen im Westjordanland unternommen zu haben. Seine Regierung ist zudem als korrupt und inkompetent verschrien.

SUCHE NACH NEUEM CHEF FÜR REGIERUNG IM GAZASTREIFEN

Angesichts dieser Ausgangslage richtet sich die internationale Aufmerksamkeit auch auf Mohammed Dahlan. Er war Sicherheitschef der PA für den Gazastreifen. Diplomaten und arabischen Regierungsmitarbeitern zufolge hat er die Unterstützung der einflussreichen Vereinigten Arabischen Emirate für die Leitung einer Nachkriegsverwaltung in Gaza. Aber Dahlan stellt Bedingungen. Niemand, und schon gar nicht er, wolle ein zerstörtes Gebiet ohne eine klare Perspektive zum Besseren regieren, sagte er Reuters. "Ich sehe bisher keine Vision von Israel, Amerika oder der internationalen Gemeinschaft." Von Israel fordert er "ernsthafte Gespräche" über eine Zwei-Staaten-Lösung, durch die Israel und ein palästinensischer Staat friedlich koexistieren könnten.

Eine wesentliche Rolle bei der Lösung des Konflikts kommt der Supermacht USA zu, dem wichtigsten Verbündeten von Israel. Amerikanische Diplomaten mahnen zur Geduld. Die Gespräche mit der PA, anderen palästinensischen Akteuren und Verbündeten wie Ägypten, Jordanien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien und Katar über die Zukunft des Gazastreifens seien noch in der Anfangsphase, sagten zwei Mitarbeiter der US-Regierung unter der Auflage der Anonymität.

Eine zentrale Frage ist die Auswahl eine geeigneten Führungspersönlichkeit. Dahlan wäre wahrscheinlich für Ägypten und Israel akzeptabel, hieß es in der US-Regierung. Dahlan ist aber mit Abbas und dem inneren Kreis der PA sowie mit Hamas-Anhängern verfeindet. Auch von Israel dürfte er abgelehnt werden, da er 1996 einer Reihe von Selbstmordattentaten gegen Israel organisiert hatte. Ein möglicher Kandidat wäre auch der bei vielen Palästinensern beliebte Marwan Barghuti, ein Fatah-Führer, der seit 2002 in Israel wegen Mordes inhaftiert ist. Allerdings wird in den USA die Zustimmung Israels an unwahrscheinlich angesehen.

ÜBERGANGSVERWALTUNG AUS TECHNOKRATEN VORGESCHLAGEN

Wegen der Blockade verschiedener Lösungsvorschläge haben einige westliche und arabische Staaten eine zweijährige Übergangsverwaltung aus Technokraten vorgeschlagen. Sie sollte von den UN und arabischen Kräften unterstützt werden, hieß es in der US-Regierung.

Allerdings sind einige arabische Regierungen - darunter Ägypten - nur zu einem begrenzten Engagement bereit. Sie fürchteten, in das hineingezogen zu werden, was sie als "Gaza-Sumpf" betrachten, erklärten Nahost-Diplomaten. Demnach schließen sie nicht aus, dass im Gazastreifen eingesetzte Streitkräfte gegen die Bevölkerung vorgehen müssten. Kein
arabisches Land wolle sein Militär in eine solche Lage bringen.

US-Präsident Joe Biden fordert eine "Vision" für eine Zweistaatenlösung. Seine Unterhändler scheinen aber etwas skeptisch zu sein. "Wir sind sicherlich noch nicht so weit, diese Vision unseren regionalen Partnern zu verkaufen, die letztendlich damit leben oder sie umsetzen müssen", sagte ein hochrangiger Regierungsmitarbeiter. Nicht zuletzt ist mit massiven Widerstand aus Israel zu rechnen. Netanjahus Regierung, zu der auch Mitglieder rechtsextremer Parteien gehören, lehnt bislang einen Palästinenser-Staat ab.

Biden könnte sich deshalb nach Angaben einer mit den Verhandlungen vertrauten Person auch damit zufriedengeben, dass lediglich ein Weg aufgezeigt wird, wie Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern wieder aufgenommen werden könnten. Biden strebt im nächsten Jahr seine Wiederwahl an und möchte israelfreundliche Wähler nicht verprellen, indem er Netanjahu zu Zugeständnissen an die Palästinenser drängt.

Während die Suche nach einer dauerhaften Lösung des Konflikts kaum fortzuschreiten scheint, wächst im Gazastreifen trotz der militärischen Erfolge der israelischen Armee der Wille zum Widerstand. Über ein Dutzend von Reuters befragte Einwohner sagten, die israelische Invasion bringe eine neue Generation von Kämpfern hervor. So erklärte etwa der 37-jährige Abu Mohammad, ein Mitarbeiter im Flüchtlingslager Dschabalia: "Die Israelis mögen den Gazastreifen besetzen, aber sie werden sich niemals sicher fühlen, nicht einen Tag lang." (Reuters)