Der Marsch der Torheit in Afghanistan

Der Westen verkennt die Strukturen am Hindukusch, denn für Pakistan sind die Taliban kein Gegner, sondern ein strategisches Faustpfand, meint der ehemalige indische Außen- und Verteidigungsminister Jaswant Singh in seinem Kommentar.

US-Soldaten auf Patrouille in der Nähe von Helmand; Foto: AP
Fehlender Durchblick: Die von den USA angeführte Koalition gegen den Terror steckt in Afghanistan fest, und "je länger es sich hinzieht, desto zerstörerischer wird der letztendliche Ausgang sein", analysiert Singh.

​​ Als im Zuge der Wikileaks-Enthüllungen unbearbeitete Daten und Berichte des US-Geheimdienstes aus Afghanistan auf Computern weltweit zu lesen waren, reagierten die Kommentatoren in Pakistan mit massiven Attacken. Einer sprach von "neokonservativen Blutsaugern, blutdürstigen Islamophoben, Irredentisten aus dem Thinktank, (indischen) Revanchisten, die eine weitere Zerstückelung planen, damit sie ihren Blutrausch in Afghanistan fortsetzen (können)."

Heftige Worte, vor allem im Vergleich zu den Äußerungen von US-Verteidigungsminister Robert M. Gates, der lediglich "beschämt" und "entsetzt" über die durchgesickerten Informationen war.

Die Daten lösten eine so erhitzte Debatte aus, weil der von den USA angeführte Kampf gegen den "Dschihadismus" plötzlich auf einen unerwarteten Gegenspieler traf: die Wahrheit. So scheint jetzt jedem, der Augen hat, klar zu sein, dass die Invasion Afghanistans auf einer großen Fehleinschätzung beruhte: dass Afghanistan erfolgreich eingenommen werden kann.

Im Laufe der Geschichte sind derartige Unterfangen immer schiefgegangen. Das Land wird vielleicht eine Weile besetzt, allerdings nur vorübergehend; es kann nicht besiegt werden. Die Erkenntnis dieser historischen Wahrheit, die die Wikileaks-Affäre verdeutlicht hat, quält nun die aktuellen Invasoren.

Attentäter, die die USA angriffen, waren Bürger Saudi-Arabiens

Die große Fehleinschätzung, die zum Einmarsch in Afghanistan führte, beruhte auf einer falschen Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001.

Brennende Türme des World-Trade-Center in New York am 11. September 2001; Foto: dpa
"Die große Fehleinschätzung, die zum Einmarsch in Afghanistan führte, beruhte auf einer falschen Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001", schreibt Singh.

​​ Die überwiegende Anzahl der Attentäter, die die USA angriffen, waren Bürger Saudi-Arabiens, unter Mithilfe von Pakistanern. Wie eigenartig, dass die USA aus Rache nach der Invasion Afghanistans den Irak angriffen und dann, noch bevor diese Mission beendet war, den Krieg in Afghanistan intensivierten, indem sie ihre Militärkräfte dort aufstockten.

Nahezu zehn Jahre nach Kriegsbeginn stellt sich uns also erneut eine grundlegende Frage: Was ist das Ziel dieser Bemühungen? Wenn es um die Bekämpfung des Terrorismus geht, warum sind die USA und die Nato nicht im Jemen, in Somalia oder Pakistan, die immer mehr zu Zufluchtsorten für Terroristen werden? Oder geht es im Krieg in Afghanistan jetzt in Wirklichkeit darum, den Aufständischen, die die Regierung Hamid Karzai bekämpfen, etwas entgegenzusetzen?

Wenn diese Fragen nicht vernünftig beantwortet werden, ist das Unternehmen dazu verurteilt, als konfuse Torheit angesehen zu werden. Deshalb haben sich die Wikileaks-Enthüllungen als so verheerend erwiesen: Sie greifen direkt die Grundlage für diesen Krieg an – sowohl die "moralische" Basis als auch die ambivalenten Motive, mit denen er gegenwärtig gerechtfertigt wird.

Indem sie den "Terrorismus" angreifen und gleichzeitig an der "Bekämpfung der Aufständischen" mitwirken, sind die US-geführten Nato-Streitkräfte in Afghanistan leider zu Tätern geworden, die das tun, was sie bekämpfen. Schlimmer noch, ein Gefühl des wiederauflebenden Imperialismus fügt sich ebenfalls zum Gesamtbild hinzu, und zwar nicht nur unter Afghanen. Dieser Eindruck einer imperialen Besatzung hat die vermeintliche Lösung des Terrorproblems in Afghanistan in das Problem selbst verwandelt.

Die pakistanische Unterstützung hat einen hohen Preis

Und als wäre das Durcheinander an Motiven in Afghanistan nicht schlimm genug, trägt Pakistan weiter zur Verwirrung bei. Ohne Pakistan als strategischen Partner, der Land, Ressourcen und militärische Unterstützung bereitstellt, wären die Einsätze in Afghanistan noch mehr festgefahren. Doch hat die pakistanische Unterstützung eindeutig einen hohen Preis.

US-General David Petraeus und pakistanischer General Ashfaq Kayani; Foto: dpa
Ein hoher Preis: Der Westen braucht Pakistan als strategischen Partner in seinem Kampf gegen den Terrorismus. Doch nicht zuletzt die Wikileaks-Dokumente haben gezeigt, dass diese Partnerschaft äußerst fragil ist.

​​ Die USA "erkaufen" sich mit Pakistan einen Verbündeten, der die Bedingungen der Zusammenarbeit diktiert und gleichzeitig seine Flanken schützt, indem er seine Kommunikationskanäle zu den Taliban offen hält. Dies stellt jedoch eine vollkommen verständliche Vorkehrung seitens Pakistans dar, dessen Regierung, wie alle anderen Regierungen in der Region, auf den Tag vorbereitet sein muss, an dem sich die USA und die Nato aus Afghanistan zurückziehen.

Es ist natürlich gut, dass die USA nicht mehr glauben, Afghanistan könnte in eine Art Jefferson-Demokratie am Hindukusch verwandelt werden. Doch hätte dies grundsätzlichere Bedenken aufwerfen sollen, da Afghanistan eher ein Konzept – ein mehrsprachiges Gebilde verschiedener ethnischer Gruppen – als ein funktionierender Staat ist. Zwar leben die Afghanen in einem sich wandelnden Muster der Loyalität zu Kabul, doch gab es diese Einheit geschichtlich nur vorübergehend, und sie war zudem häufig von Zeiträumen der Zersplitterung durchsetzt.

Erst wenn der herrschende"Emir" in Kabul Verständnis, Toleranz und Stärke zeigt, kann es zu einer afghanischen Einheit und einer Art Frieden kommen. Diese Art von afghanischem Führungsstil zu finden, ist derzeit die wirkliche Herausforderung.

Es ist daher überaus wichtig zu akzeptieren, dass Afghanistan nicht zentral regiert werden kann, sondern nur geführt. Hier liegt der springende Punkt im Hinblick auf die vielen Fehlschläge des westlichen Bündnisses: ihr nachweislicher Mangel an wirklichem Verständnis für das Wesen Afghanistans.

Taliban sind durch Interessen der USA und Pakistan entstanden

Andere Faktoren komplizieren die Sache, z. B. dass Teile des pakistanischen Militärestablishments die Taliban und Al Kaida unterstützen – dabei muss eine drei Jahrzehnte alte Tatsache berücksichtigt werden: Die Taliban sind in den 1980er Jahren durch die gemeinsamen nationalen Interessen von USA und Pakistan entstanden.

Kämpfer der Taliban in Afghanistan; Foto: dpa
Pakistan hält die Kontakte zu den Taliban aufrecht, um im Post-US-Afghanistan seinen Einfluss geltend machen zu können. Afghanistan wird auch weiterhin nicht "zentral regiert werden können, höchstens geführt", so Singh.

​​ Darüber hinaus besteht bei jedem Versuch, die Taliban aus Waziristan zu vertreiben, das Risiko, Pakistan auseinanderzureißen.

Außerdem sieht Pakistan laut Armeechef General Ashfaq Kayani die Taliban als "einen strategischen Vorteil" im Kampf gegen Indien an. Die USA und die Nato scheinen noch nicht einmal angefangen zu haben, darüber nachzudenken, wie Pakistans außenpolitische Ziele von den Erfordernissen des inneren Zusammenhalts getrennt werden können, da irredentistische Agitation gegen Indien Teil des Kitts ist, der Pakistan zusammenhält.

Alltagsleben im Kriegsgebiet

Dadurch, dass die USA die Taliban ins Visier nehmen, haben sie sie in eine aufständische "Armee" verwandelt – und die Bevölkerung fängt an, diesen Widerstandsgedanken (wieder einmal) akzeptabel zu finden. Selbstverständlich besteht Al Kaida aus unwillkommenen "Fremden", doch wenn die US- und Nato-Streitkräfte sie angreifen, schließen sich alle zusammen – und Pakistan unterstützt diesen Bund heimlich.

Jaswant Singh; Foto: AP
Jaswant Singh sieht die "dringende Aufgabe für US-Präsident Barack Obama darin, Amerikas Strategie aus der Sackgasse herauszumanövrieren, in der sie zurzeit feststeckt."

​​ Diese Dynamik kennen und erleben wir in Südasien seit langer Zeit. Wikileaks hat unser hart verdientes Wissen nun in einer Sprache dokumentiert, die gewöhnliche Amerikaner und Europäer verstehen.

Die dringende Aufgabe für US-Präsident Barack Obama besteht darin, Amerikas Strategie aus der Sackgasse herauszumanövrieren, in der sie zurzeit feststeckt, und auf eine Taktik zuzusteuern, die das Gleichgewicht zwischen den eigenen nationalen Interessen sowie denen von Indien, Pakistan und einem gespannt zusehenden China aufrechterhält. Ein ungemein komplexes Endspiel ist im Gange. Je länger es sich hinzieht, desto zerstörerischer wird der letztendliche Ausgang sein.

Jaswant Singh

© Project Syndicate 2010

Aus dem Englischen von Anke Püttmann

Jaswant Singh, ehemaliger indischer Finanzminister, Außenminister und Verteidigungsminister, ist Autor von "Jinnah: India – Partition – Independence".

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

Qantara.de

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