Die Geister, die ich rief

Wie gelang es den Taliban, von einer lokalen Miliz zu einer überregionalen Macht zu werden und in kürzester Zeit große Teile Afghanistans unter ihre Kontrolle zu bringen? Antworten von Joseph Croitoru

Verhaftete Taliban Kämpfer; Foto: AP
Selbst anderthalb Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen auf der politischen Bühne Afghanistans und Pakistans sind die Taliban ein nur schwer fassbares Phänomen.

​​ Selbst anderthalb Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen auf der politischen Bühne Afghanistans und Pakistans sind die Taliban ein nur schwer fassbares Phänomen. Schon in den bis heute maßgebenden Studien von Ahmed Rashid und Neamatollah Nojumi wurde die Entstehung dieser Bewegung unterschiedlich beschrieben.

Rashid zufolge wurden die Taliban im afghanischen Kandahar-Gebiet aus einer lokalen Initiative von Veteranen des Verteidigungskrieges gegen die Rote Armee geboren. Außer ihrer paschtunischen Stammeszugehörigkeit verband sie ein mehr oder weniger gemeinsamer Madrassa-Hintergrund – an diese Koranschulen erinnert ihre Selbstbezeichnung Taliban (Schüler).

Sie wollten dem Banditentum mancher lokaler Anführer innerhalb der ursprünglich gegen die sowjetischen Invasoren kämpfenden Mudschahedin-Gruppen ein Ende setzen, die Anfang der 1990er Jahre in einen blutigen Bürgerkrieg gegeneinander verfallen waren.

Nachdem sich der Kern der Taliban formiert und durch lokale "Säuberungsaktionen" einen Namen gemacht hatte, stellte sich Pakistan, das bis dahin den Mudschahedin-Führer Gulbuddin Hekmatyar unterstützt hatte, hinter die neuen Akteure.

In der Studie von Nojumi hingegen wird der pakistanischen Interventionspolitik auf die Entstehung der Taliban eine größere Bedeutung beigemessen. Die Wahrheit dürfte irgendwo dazwischen liegen.

Pakistanischer Einfluss

Sowohl Rashid als auch Nojumi sehen die Ursache für den Aufstieg der Taliban in ihrer Effizienz als Wächter der Straßen. Ganz oben nämlich auf der Prioritätenliste der damaligen pakistanischen Regierung Bhutto stand die Sicherung der durch Afghanistan führenden Transportwege nach Mittelasien.

Gulbuddin Hekmatyar; Foto: AP
Nachdem sich der Kern der Taliban formiert, stellte sich Pakistan, das bis dahin den Mudschahedin-Führer Gulbuddin Hekmatyar unterstützt hatte, hinter die neuen Akteure.

​​ Um die zahlreichen Straßensperren zu beseitigen, deren Bewacher den pakistanischen Transportfluss durch horrende Passiergebühren behinderten, verbündete man sich mit den Taliban. Diese begannen, die Banden von den Straßen zu vertreiben, und erhielten dafür von pakistanischer Seite wachsende Unterstützung.

Die aus Pakistan kommenden Transporte wurden von der pakistanischen "Transport-Mafia" abgewickelt, die nun einen Teil ihrer Einnahmen – unter anderem aus dem Drogenhandel – als Schutzgebühr an die Taliban entrichtete.

Hier sei es jedoch um weit mehr als nur um Geld gegangen, meint Nojumi, der in einem neuen Sammelband über die Taliban und die Afghanistan-Krise nun noch deutlicher als in seiner Studie von 1992 hervorhebt, dass dieses lukrative Transportgeschäft größtenteils in der Hand pakistanischer Militärs lag, die ursprünglich die afghanischen Mudschahedin mit pakistanischen Waffen versorgt hatten.

Ziel sei damals nicht nur die Bekämpfung der sowjetischen Invasoren gewesen, sondern auch die Installierung eines Pakistan-freundlichen Regimes in Kabul.

Dieses sollte Islamabad nicht nur als zusätzliches Bollwerk gegen mögliche Aggressionen des Erzfeindes Indien dienen, sondern auch die Regimetreue der afghanischen Exilgemeinde in Pakistan sichern.

Der Wandel zur Massenbewegung

1995 wurde mit amerikanischer Finanzhilfe der Fahrzeugpark der pakistanischen "Transport-Mafia" um eine ganze Flotte von Toyota Pick-ups erweitert. Nojumi zufolge geschah dies auf Druck der Öl-Lobby – der amerikanische Konzern Unocal und die saudische Delta Oil planten den Bau von zwei Pipelines und versprachen sich von dieser Intervention stabilere politische Verhältnisse.

Die Toyotas beförderten nicht nur Waffen in großer Zahl, sondern auch Tausende afghanischer und pakistanischer Taliban-Kämpfer aus den Paschtunen-Gebieten im afghanisch-pakistanischen Grenzland.

Karte Grenzregion Pakistan Afghanistan Foto: DW
Die Taliban waren von Anfang an ein afghanisch-pakistanisches Phänomen, stellt Joseph Croitoru fest.

​​ Als Massenbewegung waren die Taliban also von Beginn an ein afghanisch-pakistanisches Phänomen mit weitgehend gemeinsamer Stammesherkunft. Die Kämpfer wurden in pakistanischen Koranschulen und afghanischen Flüchtlingslagern in Pakistan rekrutiert und von den Pakistanern – ebenfalls mit finanzieller Unterstützung der Amerikaner, wie Bhutto zugab – militärisch ausgebildet.

Dieses Erstarken leitete für die Taliban die Wende ein, denen es nun im September 1995 gelang, die bis dahin schwer einnehmbare Provinz Herat zu erobern: Sie avancierten von einer lokalen zu einer überregionalen Macht in Afghanistan.

Auf die Verwandlung von einer Miliz in eine revolutionäre Massenbewegung waren die Taliban-Führer nicht vorbereitet. Nojumi zufolge fehlte ihnen zum Aufbau eines funktionierenden Verwaltungsapparats die Kompetenz.

Auf die Alltagsbedürfnisse der afghanischen Bevölkerung wurde keinerlei Rücksicht genommen; drakonische Strafen für angeblich unislamisches Verhalten ließen bei den Menschen die anfängliche Begeisterung für die neue Ordnung schnell abflauen.

Der Weg zur Macht

Wie aber war es den Taliban überhaupt gelungen, in kürzester Zeit große Teile des Landes unter ihre Kontrolle zu bringen? Es wird angenommen, dass die Machtübernahme der Taliban nicht zwangsläufig auf gewaltsamem Weg erfolgte; durch Bestechung und geschickte Verhandlungen hätten sie manchen Warlord zur Kapitulation bewegen oder aber einen Teil der Anhängerschaft dazu bringen können, die Seiten zu wechseln.

Der amerikanische Politologe Abdulkader Sinno vesucht, diese Erklärungsansätze weiterzuentwickeln. Dabei beschränkt er sich weitgehend auf den damaligen Siegeszug der Taliban in den Paschtunen-Gebieten, der durch die gemeinsame Stammeskultur sowie die Hoffnung der Paschtunen, wieder die dominierende Macht in Afghanistan zu werden, begünstigt wurde.

Allerdings waren die Taliban im Paschtunen-Gürtel mit sehr unterschiedlich organisierten Gegnern konfrontiert: Von Banden, die eine Straße kontrollierten und in begrenztem Umfang am Opiumgeschäft beteiligt waren, bis zu ortsübergreifend organisierten Milizionären, die in größerem Stil agierten.

Die Kontrolle sicherten sich die lokalen Herrscher nicht nur durch Waffengewalt, sondern auch durch Beziehungsnetze, in denen vasallenähnliche Verhältnisse herrschten. Dabei spielten Verwandtschaftsbeziehungen eine Rolle; manch lokaler Anführer verdankte seinen Status auch seiner religiösen Autorität oder seinen Verdiensten im antisowjetischen Dschihad.

Grenzen der Bewegung

In der Bevölkerung waren nicht alle lokalen Machthaber gleich beliebt. Das dürfte dazu beigetragen haben, dass es den Taliban immer wieder gelang, Gefolgsleute lokaler Patrone mit finanziellen Anreizen dazu zu bewegen, das Lager zu wechseln.

​​ Auch hochrangige Kommandeure der Milizen regionaler Warlords sollen mit Geld oder Posten abgeworben worden sein, bisweilen unter gezielter Ausnutzung von Spannungen, die zwischen ihnen und ihren Vorgesetzten herrschten. So konnte Abdul Malik, einer der Kommandeure des gefürchteten Usbeken Rashid Dostum, überredet werden, sich den Taliban anzuschließen – begünstigend wirkte sich hier der Umstand aus, dass Malik Dostum verdächtigte, seinen Bruder getötet zu haben.

Für Sinno ist der Fall Malik zwar einerseits beispielhaft für die Abwerbestrategie der Taliban, zeigt aber andererseits, dass ihr Erfolg außerhalb des paschtunischen Bereichs nur von kurzer Dauer war: Als ein Teil seiner Einheiten bei der gemeinsamen Eroberung von Mazar-e-Scharif im Frühsommer 1997 den Taliban unterstellt werden sollte, wandte sich Malik gegen seine neuen Verbündeten.

Wo die Überredungsstrategie versagte oder von vornherein zum Scheitern verurteilt war, griffen die Taliban zum politischen Mord. So wurde Ahad Khan Karzai, der Vater des derzeit amtierenden Präsidenten Afghanistans, im Juli 1999 erschossen, als er aus einer Moschee kam.

Alte Taliban und "Neo-Taliban"

Inwieweit die alten Beziehungsgeflechte beim Wiedererstarken der Taliban eine Rolle spielen, ist noch immer eine offene Frage. Bei der Entstehung der "Neo-Taliban" (Amin Tarzi) dürfte jedenfalls der im Land umstrittene Versöhnungskurs, den Karzai nach der Auflösung des Taliban-Regimes Ende 2001 zunächst einschlug, eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben.

​​ Amin Tarzi bezweifelt aber, dass die alte Taliban-Garde, die Karzais Amnestieangebot offenbar nutzte, um in den abgelegenen paschtunischen Gebieten unterzutauchen, den gegenwärtig erstarkenden militärischen Widerstand gegen das neu installierte demokratische Regime anführt.

Die Aufständischen rekrutieren sich seiner Ansicht nach vielmehr aus jenen Paschtunen-Stämmen, die einst mit den Taliban sympathisierten und ihr Bestreben, wieder zur führenden Kraft Afghanistans zu werden, nicht aufgegeben haben. Nun aber sehen sie sich innerhalb des neuen Regierungssystems und der entstehenden nationalen Streitkräfte an den Rand gedrängt und zudem als Hauptzielscheibe im sogenannten Antiterrorkrieg.

Die Hauptziele dieser Aufständischen, zu denen sich auch Al-Qaida-Elemente gesellen, sind die Vertreibung der ausländischen Truppen und die Wiedererrichtung eines islamischen Staates nach den Gesetzen der Scharia.

Der Afghanistan-Experte Amin Tarzi schätzt, dass die Widerständler eher in kleinen Gruppen organisiert sind und auch miteinander konkurrieren. Nicht jeder, der unter dem Namen Taliban firmiert, vertritt auch wirklich die alte Garde, geschweige denn ihr einstiges politisches Programm. Entsprechend gibt es auf ideologischer Ebene eine Vielfalt von Standpunkten, die mal mehr, mal weniger panislamisch ausgerichtet sind.

Joseph Croitoru

© Qantara.de 2009

"The Rise and Fall of the Taliban", in: "The Taliban and the Crisis of Afghanistan", hrsg. von Robert D. Crews und Amin Tarzi. Harvard University Press, Cambridge 2008.

Ahmed Rashid: "Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad". Droemer Knaur 2001.

Neamatollah Nojumi: The Rise of the Taliban in Afghanistan: Mass Mobilization, Civil War, and the Future of the Region. Palgrave Macmillan 2002.

Qantara.de

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