"Einen derart folgenreichen Urteilsspruch hätte ich nicht erwartet"

Der Internationale Gerichtshof hat das Massaker von Srebrenica erstmals als Völkermord eingestuft. Ein Gespräch mit Albin Eser, emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für internationales Strafrecht

Internationaler Gerichtshof; Foto: AP
Serbien wäre völkerrechtlich verpflichtet gewesen, geeignete Maßnahmen zu treffen, um einen Völkermord zu verhindern, so die Haager Richter

​​Der Internationale Gerichtshof hat das Massaker von Srebrenica während des Bosnienkrieges als Völkermord eingestuft, aber Serbien dafür nicht direkt verantwortlich gemacht. Welche Bedeutung hat dieses Urteil?

Albin Eser: Die Frage, wie man das Urteil einschätzen soll, hängt von den Erwartungen ab. Einerseits ist die von Bosnien eingeklagte finanzielle Entschädigung ausgeblieben. Wenn anderseits Serbien gehofft hatte, von jeder Verantwortlichkeit freigesprochen zu werden, hat es auch nicht Recht bekommen. Denn das Gericht hat nicht nur festgestellt, dass in Srebrenica ein Völkermord begangen worden ist, sondern dass auch Serbien nicht von jeder Mitverantwortung dafür frei ist.

Inwieweit ist Serbien für diesen Genozid verantwortlich?

Eser: Zwar konnte das Gericht keine direkte Beteiligung von Serbien an dem Völkermord in Srebrenica feststellen, da man der damaligen Regierung in Belgrad nicht zweifelsfrei nachweisen konnte, dass die der Republica Srpska gewährte finanzielle und militärische Hilfe für die Durchführung des Völkermords eingesetzt würde.

Aber nicht weniger wichtig ist die Feststellung des Gerichts, dass Serbien völkerrechtlich verpflichtet gewesen wäre, angesichts der bekannten ethnischen Spannungen geeignete Maßnahmen zu treffen, um einen Völkermord zu verhindern. Das ist auch eine Art von Verantwortung, die völkerrechtlich nicht zu unterschätzen ist.

Für einen Nichtjuristen besteht jedoch eine gewisse Zweideutigkeit in dem Urteil.

Carla del Ponte; Foto: AP
Noch bis September 2007 ist Carla del Ponte Chefanklägerin am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag

​​Eser: Das würde ich nicht so sehen. Der Internationale Gerichtshof hat eindeutig festgestellt, dass Serbien zwar nicht direkt für den Massenmord in Srebrenica verantwortlich ist, dass es aber seine Pflicht als Staat verletzt hat. Vor allem aber hat der IGH der heutigen Regierung in Belgrad die Verletzung ihrer Kooperationspflicht mit dem Internationalen Straftribunal zum Vorwurf und die Auflage gemacht, Serbenführer Mladic auszuliefern.

Aber Carla del Ponte kämpft jeden Tag, damit Mladic und Karadzic von Belgrad ausgeliefert werden – ohne Erfolg.

Eser: Jetzt hat aber Belgrad gleichsam höchstoffiziell bescheinigt bekommen, dass es nicht nur Carla del Ponte oder die Europäische Union sind, die diese Forderung erheben, sondern auch das oberste Gericht der Vereinten Nationen. Serbien wird also nicht mehr die Möglichkeit haben, so zu tun, als hätte es keine Verantwortung für die Auslieferung von Mladic.

Es gibt keine Entschädigung für Bosnien: Ist das nicht ein Zeichen, dass die Verantwortlichkeit von Serbien doch nicht so groß ist?

Ratko Mladic und Radovan Karadzic; Foto: AP
Sollen an den Internationalen Strafgerichtshof ausgeliefert werden: ehemaliger Oberbefehlshaber der serbischen Truppen in der Herzegowina, Ratko Mladic, und ehemaliger Präsident der Republika Srpska, Radovan Karadzic

​​Eser: Zwar wird es keinen Schadenersatz in finanzieller Weise geben. Wohl aber hat Bosnien durch die gerichtliche Feststellung von Völkermord Genugtuung erhalten. Das ist politisch nicht gering zu veranschlagen.

Welche politische Folge hat das Urteil für die serbische Regierung?

Eser: Erstens muss Belgrad diese Mitverantwortung akzeptieren. Zweitens ist die Regierung verpflichtet, alles zu tun, um die Personen, die für diesen Völkermord strafrechtlich verantwortlich sind, zu verfolgen.

Ganz konkret: Mladic auszuliefern. Falls Serbien diesen bindenden Verpflichtungen nicht nachkommt, hat es Sanktionen durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu gewärtigen. Einen derart folgenreichen Urteilsspruch des IGH hätte ich nicht ohne weiteres erwartet.

Interview: Alain-Xavier Wurst

© Alain-Xavier Wurst

Albin Eser; Foto: Max-Planck-Institut
Albin Eser

​​Das Interview erschien in "ZEIT-online". Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Albin Eser ist emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Professor emeritus für Strafrecht in Freiburg und war Richter am Internationalen Tribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag

Qantara.de

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