Der islamische Kampf um Palästina

Ein besseres Verständnis der Hamas und des Nahostkonflikts bietet das informativ und unterhaltsam geschriebene Buch "Hamas – Der islamische Kampf um Palästina" des Historikers Joseph Croitoru. Jürgen Endres hat es gelesen.

​​Ob als islamistische Widerstandsbewegung, als politische Partei oder als Gruppierung innerhalb bewaffneter innerpalästinensischer Auseinandersetzungen, seit Jahren bestimmt die palästinensische "Harakat al-Muqawama al-Islamiyya" - bekannt unter ihrem Akronym "Hamas" - Verlauf und Dynamik des Nahost-Konflikts maßgeblich mit.

Sie sorgt dabei stets für Schlagzeilen, ohne dass viel über Zielsetzung und Ideologie der Organisation - zumindest auf dem deutschsprachigen Buchmarkt - geschrieben worden wäre.

Dieser Lücke hat sich nun mit "Hamas. Der islamische Kampf um Palästina" der in Haifa geborene und in Deutschland lebende Historiker und Journalist Joseph Croitoru angenommen.

Entstanden ist dabei ein sorgfältig recherchiertes und solides Sachbuch, das umfassend und detailliert viele Hintergrundinformationen liefert, die nicht nur zu einem besseren Verständnis der Hamas, sondern auch des Nahostkonflikts und des "Nahost-Friedensprozesses" von Nöten sind.

Zwei zentrale Aussagen dominieren hierbei die Hamas-Geschichtsschreibung Croitorus. Zum einen ist dies die Vergleichbarkeit der Entwicklung der Hamas mit der im Jahr 1928 in Ägypten durch Hassan al-Banna gegründeten Muslimbruderschaft, aus der die Hamas nicht nur ideologisch hervorging, sondern von der sie zugleich auch viele Strategien und Strukturmuster übernommen hat.

Zum anderen ist es die Einschätzung des Autors, dass von der Hamas auch in Zukunft wenig Positives für eine friedliche Entwicklung der krisengeplagten Region zu erwarten ist. Die Geschichte der Hamas ist dementsprechend eben auch die Geschichte des bis dato trotz verschiedener Friedensinitiativen gescheiterten Nahostfriedensprozesses.

Die Entwicklung der Hamas

Croitoru geht in seinem Buch vor, wie man es von einem Historiker erwartet - und unternimmt dabei mit seinen Lesern einen äußerst informativen und manchmal auch unterhaltsamen Streifzug durch die Geschichte des Nahostkonflikts.

Beginnend mit der Gründung der Muslimbruderschaft in Ägypten und ihrem Engagement in Palästina schildert der Autor die lange Entstehungsgeschichte der Hamas, informiert über ihre Vorläufer sowie die politischen Entwicklungen, die zu ihrer Gründung im Jahr 1988 durch Scheich Jassin führten.

Dabei wirft er Fragen auf, informiert über wissenschaftliche Diskurse und mittels kurzer biographischer Exkursionen zudem über zentrale Akteure des Geschehens.

Der eigentliche Schwerpunkt seiner Untersuchung gilt jedoch der Entwicklung der Hamas seit ihrer Gründung bis zu ihrem Wahlsieg bei den palästinensischen Autonomieratswahlen im Jahr 2006.

Eindrücklich schildert Croitoru hierbei die Konkurrenz zwischen säkularer PLO und islamistischer Hamas um die Vormachtstellung erst innerhalb des palästinensischen Widerstandes und dann - mit Herausbildung des palästinensischen Autonomiegebietes - innerhalb des politischen Gebildes "Palästina".

Kampf zweier Rivalen

Die Geschichte des Nahostkonflikts in diesen Jahren erklärt sich für Croitoru vor diesem Hintergrund insbesondere als Resultat von Konfliktstrategie und jeweiliger Gegenstrategie zweier rivalisierender palästinensischer Widerstandsbewegungen.

Der Abgrenzung gegenüber dem jeweils anderen, der strategischen Funktion des Terrors (vom Autoren geradezu als grausamer Wettbewerb verschiedener islamistischer und säkularer terroristischer Organisationen geschildert) und dem permanenten Bestreben des Übertrumpfens des Rivalen schreibt Croitoru dabei einen besonderen Stellenwert zu.

Darüber hinaus analysiert der Autor die vielfältigen Strukturen und Netzwerke sowie die grundsätzlichen ideologischen Aussagen der Hamas - auch dies stets unter der Perspektive der Rivalität zwischen PLO und Hamas.

Besonders spannend sind dabei sicherlich Croitorus Schilderungen des ideologischen Schlagabtausches zwischen PLO und Hamas etwa via Flugblätter, die die ideologischen Entwicklungen der Hamas dokumentieren und zugleich darüber informieren, was islamistische Rhetorik ausmacht und wie Geschichtsschreibung und Mythenbildung funktionieren.

All dies wird spannend erzählt und - wie es sich für einen Historiker gehört - ordentlich dokumentiert. Besonders hervorzuheben ist diesbezüglich die Vielfalt der von Croitoru in seine Recherchen einbezogenen und zitierten Quellen.

Dies gilt zum einen für die sprachliche Vielfalt (deutsch, englisch, französisch, arabisch und hebräisch) wie auch für die Art der Quellen selbst (Sekundärliteratur, ideologische Schriften, Flugblätter, Internet etc.).

"Wer" ist die Hamas?

Getrübt wird die Lektüre des von Joseph Croitoru vorgelegten Hamas-Buches jedoch durch folgende Einschränkungen und Mängel. Zum einen versäumt der Autor, seinen Lesern die eigentlich zentrale und drängende Frage zu beantworten, "wer" denn die Hamas eigentlich ist.

So erfährt man zwar viel Wissenswertes über Ursprung und Ideologie der Hamas, über die vielfältigen Aktivitäten und Strategien der islamistischen Organisation wie auch über ihre Führungskader.

Ein Sozialprofil der ganz normalen Mitglieder und Sympathisanten der Organisation, also all jener, die Hamas wählen und abseits der Führungsriege die Organisation ausmachen und mit Leben füllen, fehlt vollends.

Darüber hinaus bleibt das Buch über große Strecken - wenn auch gelungene, weil gut strukturierte - Darstellung von "Ereignisgeschichte".

Dass die geschilderten Ereignisse dabei unentwegt als Resultate strategischen Handelns stets rational handelnder Menschen interpretiert werden, ist dabei besonders aus soziologischer Perspektive als fraglich einzustufen - und sicherlich der durch den Autoren getroffenen Grundsatzentscheidung geschuldet, Geschichte (und hier eben die Geschichte der Hamas) "von oben" zu schreiben.

Ein ergänzender Blick auf die Dinge - nämlich "von unten" - hätte dem Buch diesbezüglich sicher sehr gut getan.

Lesenswert und informativ

Dies sollte jedoch auf gar keinen Fall von der Lektüre des Buches abhalten. Ganz im Gegenteil: Ungeachtet der hier angeführten Kritikpunkte bleibt das von Croitoru vorgelegte Hamas-Buch unbedingt lesenswert, weil überaus informativ.

Dies für all diejenigen, die sich gezielt über die Hamas oder allgemeiner über die Palästinafrage und damit über das Kernproblem des Nahostkonflikts informieren wollen.

Ob das Buch allerdings, wie der Klappentext vollmundig ankündigt, ein "Muss" ist für alle jene, die verstehen wollen, wie die Islamisten, demokratisch legitimiert, die politischen Koordinaten im Nahen Osten grundlegend verändern", das muss wohl jeder für sich entscheiden.

Jürgen Endres

© Qantara.de 2007

Joseph Croitoru: Hamas. Der islamische Kampf um Palästina. C.H. Beck 2007. 254 Seiten. Gebunden.
EUR 19.90

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