"Die Gesellschaft zur Zeit des Propheten kommt meinen Vorstellungen sehr nahe"

Nadia Yassine ist die Sprecherin von "Gerechtigkeit und Spiritualität", einer marokkanischen islamistischen Gruppierung, der politisches Engagement verboten ist, die aber unzählige soziale Projekte unterhält. Alfred Hackensberger besuchte sie in Casablanca.

Nadia Yassine ist die Sprecherin von "Gerechtigkeit und Spiritualität" ("al-Adl wa-l-Ihsan"), einer marokkanischen islamistischen Gruppierung, der politisches Engagement verboten ist, die aber unzählige soziale Projekte unterhält. Alfred Hackensberger besuchte sie in Casablanca.

Nadia Yassine; Foto: Alfred Hackensberger
Nadia Yassine: "Glaube und Religion ist eine Frage der freien Wahl und nicht des Zwangs."

​​Die Washington Post schrieb, dass Sie für die Einführung einer strikten islamischen Rechtsordnung sind, den Frauen das Kopftuch aufzwingen wollen und das neue Familiengesetz in Marokko nur deshalb ablehnen, weil es zu liberal ist. Ist das die Wahrheit?

Nadia Yassine: Das sind einfach Klischees, die unserem komplexen Denken nicht im Geringsten gerecht werden. Man hat da wohl etwas verwechselt mit unserer strikten, unnachgiebigen Haltung gegenüber der bestehenden Macht in Marokko. Unsere Praxis des Islam ist eine der moderatesten, die man sich nur vorstellen kann. Ich kann Ihnen versichern, dass ich sofort und mein ganzes Leben lang dagegen kämpfen würde, wollte man das Kopftuch allen Frauen in Marokko aufzwingen. Glaube und Religion ist eine Frage der freien Wahl und nicht des Zwangs.

Jeder sollte Ihrer Meinung nach also frei wählen, was er möchte und nicht möchte?

Yassine: Ja, das ist mein Verständnis von Islam. Es ist eine Wahl, eine spirituelle Wahl. Derartige Urteile wie in der Washington Post sind das Resultat ungenügender Information. In ungefähr 30 Artikeln hätte der Reporter Gegenteiliges nachlesen können. Ich habe den Journalisten der Washington Post nett empfangen, aber was kann man schon machen.

Das neue marokkanische Familiengesetz, die "Modawwana", wird als ein historischer Schritt in der arabischen Welt in Richtung Gleichberechtigung der Frau gepriesen. Sind Sie nun dafür oder dagegen?

Yassine: Wir sind bereits vor sechs Jahren für eine Änderung der "Modawwana" auf die Straße gegangen, denn für uns ist schon längst klar, das sich die Rolle der Frau ändern muss. In unserer Bewegung gibt es viele Frauen, die Projekte und Institutionen leiten. Und nehmen Sie mich, ich bin die Sprecherin unserer Bewegung. Wir sind für Veränderungen, aber die Ideen dazu muss man nicht aus dem imperialistischen Westen importieren.

Ist das neue Gesetz nun gut oder schlecht in Ihren Augen?

Yassine: Natürlich ist es gut und wichtig, keine Frage. Aber ich will Ihnen unsere Haltung auf andere Art deutlich machen. Wenn der "Makhzen" (Machtgeflecht im marokkanischen Staat) nicht sicher gewesen wäre, dass wir das neue Gesetz befürworten, hätte er es nicht durchgesetzt. Wir haben deutliche Zeichen gegeben, dass wir einverstanden sind. Aber das Gesetz ist bei Weitem nicht genug und geht auch an der Realität Marokkos vorbei. Ich gebe Ihnen nur ein Beispiel. Auf dem Lande gibt es jetzt viele "schwarze Ehen" ohne Papiere. Man heiratet dort eben wie gewohnt unter 18 Jahren, selbst wenn das jetzt durch das neue Gesetz verboten ist.

Was sollte also anders gemacht werden?

Yassine: Es ist schön, wenn man der Frau sagt: Jetzt bist du frei. Was ist aber mit der Arbeitslosigkeit, die es den Frauen unmöglich macht, unabhängig zu sein? Ökonomische Veränderungen sind nicht das Einzige, was wir brauchen. In allen Bereichen der Gesellschaft muss es Umstrukturierungen geben. Nur dann kann man wirklich etwas Positives erreichen.

Sie wollen alles ganz gar verändern. Das ist wohl ein unmögliches Unterfangen.

Yassine: So unmöglich wäre das nicht. Das System ist blockiert von der gegenwärtigen Konstitution.

Sie meinen die Verfassung der konstitutionellen Monarchie?

Yassine: Ja, sobald sie geändert wird, gibt es ökonomischen und sozialen Fortschritt. Man kann nicht einzelne Probleme losgelöst vom großen Ganzen sehen: Hier die Frauen, da die Wirtschaft oder die Erziehung. Alles ist ein System, das nur durch die Änderung der Konstitution in Bewegung kommen kann.

Weg mit der Monarchie und Sie übernehmen die Macht und alle Probleme sind gelöst?

Yassine: Nein, so einfach ist das alles nicht. Wir wollen nicht die Macht übernehmen. Dieses Erbe wäre viel zu schwer, alleine zu tragen. Wir müssen mit allen politischen Parteien, allen anderen gesellschaftlichen Kräften zusammen arbeiten. Wir brauchen einander und können nur gemeinsam die schwierigen Probleme unseres Landes lösen. Und das geht nur über Demokratie, freie Wahlen, Mehrparteiensystem, Gewaltenteilung, eine unabhängige Judikative. Die Menschen von Marokko haben ein Recht auf Demokratie. Aber zuerst müssten alle gesellschaftlichen Kräfte zusammenarbeiten, um die Konstitution zu ändern.

Das glauben Ihnen nicht viele.

Yassine: Ich weiß genau, Sie möchten nur hören, dass wir eine iranische Republik wollen und allen Frauen das Kopftuch aufzwingen.

Sie würden also nicht alle Nachtclubs und Bars schließen?

Yassine: Nein, Verbote bringen gar nichts. Eine Prohibition von Alkohol ist unsinnig. Man hat das in den USA gesehen, das Verbot von Alkohol brachte nur Probleme. Mit Zwang erreicht man nie etwas. Mit Demokratie und Erziehung dagegen viel mehr. Es ist besser, die Menschen davon zu überzeugen, dass es besser ist, keinen Alkohol zu trinken und keine Nachtclubs zu besuchen.

Und wenn die Erziehung nicht den gewünschten Erfolg bringt?

Yassine: Das muss man erst sehen, aber das wäre auch nicht so schlimm. Ich möchte einfach eine gerechte Gesellschaft, wo der Mensch im Mittelpunkt steht.

Gibt es ein Ideal dafür? Die Gesellschaft zur Zeit des Propheten Mohammads vielleicht, zurück in die Vergangenheit?

Yassine: Die Gesellschaft zur Zeit des Propheten kommt meinen Vorstellungen sehr nahe. Aber ich finde das Schweizer Modell sehr interessant. Es ist jedoch gefährlich, weil wir in Marokko keine demokratische Kultur haben. Wir müssen das erst entwickeln. Wie gesagt, gemeinsam mit allen anderen gesellschaftlichen Gruppen.

Nehmen Sie an den Parlamentswahlen 2007 teil?

Yassine: Nein, unter den gegebenen Bedingungen haben wir kein Interesse an Wahlen. Das ist nur ein Hollywood-Spektakel.

Ihre Bewegung würde sicherlich viele Sitze im Parlament gewinnen, wenn Sie an den Wahlen teilnähmen.

Yassine: Das wäre ganz sicherlich so, aber zurzeit interessiert uns das nicht. Eine Mehrheitspartei können wir auch noch später werden und dann Stabilität garantieren.

Das letzte Jahrhundert war gekennzeichnet durch eine ganze Reihe von Ideologien, die versucht haben, dem Menschen ein besseres Leben zu bescheren. Allerdings sind alle gescheitert, zuletzt der Sozialismus. Ist der Islam nun die allerletzte Lösung?

Yassine: Der Islam war schon da, lange bevor es Sozialismus, Kommunismus oder Nationalismus gab. Islam existiert seit vielen Jahrhunderten und in Krisensituationen kam man immer wieder darauf zurück. Tatsächlich könnte der Islam unsere sozialen Probleme lösen. Er ist kein magischer Schlüssel, er könnte ein Instrument sein, das vereinigt, das eine bestimmte Kraft gibt, Dinge zu verändern.

Was zurzeit zwischen Ost und West passiert, nennen manche den "Kampf der Kulturen", andere einen Nord-Süd-Konflikt. Geht es um Politik oder Religion?

Yassine: Natürlich geht es um Politik. Was in der muslimischen Welt passiert, hat direkten Bezug zum US-amerikanischen Imperialismus, den nicht unsere Religion, sondern unsere Ressourcen, unser Öl interessiert. Es geht ganz sicher nicht um den Kampf der Kulturen, um unterschiedliche Ideologien, um Gläubige und Ungläubige. Wir leben in der Phase eines neuen Kolonialismus, was heute die Suche nach neuen Märkten genannt wird. Öl ist ein Fluch für einige Länder, die mehrheitlich muslimisch sind. Es ist ein antiimperialistischer Kampf gegen Neokolonialismus. Da spielt es keine Rolle, ob man Muslim oder Christ ist, es ist ein universelles Problem.

Dem Westen geht es bei der arabischen Welt nur ums Öl?

Yassine: Ja, dort ist die Energie, die benötigt wird. Die USA vernichtet alle, die gegen sie sind. Denken Sie nur an Südamerika, an Grenada, Chile, Venezuela, El Salvador, Nicaragua und viele andere Staaten und Länder. Wir sind nun die Erben dieser Opfer des US-Imperialismus und zufälligerweise sind wir Muslime, deren Identität es erlaubt, Widerstand zu leisten. Das hat alles nichts mit dem "Kampf der Kulturen" zu tun.

Imperialismus und Kolonialismus sind selbst Schlagworte. Konkret, was ist für Sie an der westlichen Politik so verwerflich?

Yassine: Ich denke, Imperialismus basiert auf dem Wunsch ökonomischer Vorherrschaft, auf einer materialistischen Philosophie, diesen vulgären Darwinismus, der Stärkste muss gewinnen. Wir wollen Brücken zwischen Nord und Süd über die Zivilgesellschaft schlagen. Armut ist heute nicht mehr nur ein Phänomen des Südens, Armut gibt es auch im Norden. Wenn es so weiter geht mit dem Gesetz des Dschungels, dann enden wir in Zukunft in einem universellen Kampf von Arm gegen Reich.

Gibt es eine islamische Ökonomie, die ein Gegenentwurf zum Kapitalismus ist und die Welt zu einem besseren Ort für alle Menschen macht?

Yassine: Ich denke, der Islam ist umfassender als alle anderen Ideologien. Islam ist ein Weg des Seins. Islam ist für uns, da wir auch Sufis sind, ein spiritueller Zustand, der nichts mit dem herrschenden Materialismus gemein hat. Ganz am Anfang des Islam herrschte ein einfacher Handelskapitalismus mit einem Sinn für Gerechtigkeit. Eine Wirtschaftsordnung, die mit heute nicht im Geringsten vergleichbar ist, wo ein wilder Liberalismus eine hyperreichen Elite auf der einen Seite, und auf der anderen Seite Massen von Armen geschaffen hat. Wir sind nicht vollkommen gegen Kapitalismus, aber Islam kann ihm eine menschliche, gerechte Dimension geben.

Interview: Alfred Hackensberger

© Qantara.de 2006

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