"Ein Dialog bedeutet, dass ich meine eigene Schwäche zeige"

"Ich und der Islam" heißt der jüngst beim Verlag C.H.Beck erschienene Essayband des iranischstämmigen Lyrikers und Essayisten SAID. Im Interview mit Claudia Kramatschek spricht er über seine Beziehung zum Iran und zur Religion.

SAID; Foto: Stefan Weidner
"Der wild gewordene Islam – den muss man politisch behandeln, nicht theologisch", sagt SAID.

​​Sie sind vor vierzig Jahren nach Deutschland gekommen. Wie würden Sie die Wegstrecke zwischen 1965 und 2005 beschreiben?

SAID: Den Weg habe ich in vielen Büchern und Beiträgen beschrieben. In einem kurzen Gespräch kann man das gar nicht darstellen. Denn das ist ein ganzes Leben. Bedenken Sie, dass ich 17 war, als ich hierher kam. Und ich glaube, meine Herausforderung ist vielmehr, die Diskrepanz heraus zu stellen zwischen diesen beiden Lebensteilen.

Und das, was ich jetzt als eine Route zurück bezeichnen würde, das ist eine Wechselwirkung zwischen den beiden Ländern. Das ist, was mich bedrängt, was mich beschäftigt. Fast alles, was ich schreibe – auch die Liebesgedichte – hat mit dieser Diskrepanz, mit dieser Zweizeitigkeit, sage ich bewusst, zu tun.

Denn ich kann ja das andere nicht ablegen, das will ich auch nicht, – und ich kann ja auch nicht das hier verleugnen, wo ich lebe, wo ich mich gut fühle, wo ich auch arbeite und wo ich respektiert werde. Man trägt beide mit sich. Und das ist anstrengend. Aber das ist der einzige Weg, der meinem Leben gemäß ist.

Wenn Sie die deutsche Sprache in ein Bild fassen müssten, was wäre das?

SAID: Ich würde das Bild oder den Begriff der Behausung nennen. Für mich ist es eine Behausung, eine andere habe ich nicht - bis auf die Erinnerungen der Kindheit, die ja nicht vorhanden sind.

"vom sozialen umfeld her bin ich muslim", so heißt es an einer Stelle im neuen Band. Wie aber wirkt sich das seit 9/11 nun immer feindlicher werdende soziale Umfeld im Westen auf SAIDS Verhältnis zu einer Religion aus, die er nie ausgeübt hat?

SAID: Zunächst einmal ist es so: Ich habe keine Religion ausgeübt in meinem Leben, ich habe keine Verachtung für irgendeine Religion – und das werde ich hoffentlich auch nie bekommen! – und hoffentlich bin ich auch so weit, das ich nie dieses Umfeld verachte oder ablehne.

Das ist eine Frage der Kindheit: Ich bin ja in einem islamischen Land aufgewachsen, obwohl meine Familie nie religiös war und mich immer in Ruhe gelassen hat in diesen Angelegenheiten – Gottseidank! Aber man sieht, man hört und man hält sich an manche Regeln und man gewinnt dadurch einen gewissen Respekt für die religiösen Gefühle Anderer – das gilt für alle Religionen.

In der letzten Zeit – dank einiger Bombenwerfer aus der islamischen Ecke – ist natürlich eine Haltung in Europa aufgekommen, dass man den Islam gerne in diese Ecke tut. Ich gehe sofort auf die Barrikaden, wenn ich so was höre oder sehe. Denn man muss sich auch die Frage stellen, und das besonders im Westen, warum der Islam in den letzten 20 Jahren zu Bomben gegriffen hat.

​​Wenn man mir sagt, das ist Koran-immanent – dann antworte ich: Wenn es dem Koran immanent ist, warum haben die islamischen Bombenleger nicht 1930 so gehandelt? Es ist das soziale Umfeld, um bei diesem Begriff zu bleiben – oder es ist jene legendäre Schere zwischen arm und reich, die immer wieder zu solchen Taten führt.

Liest man die bis dato vorliegenden Bücher von SAID, so fällt einem auf, dass sie der Formel 'immer wieder' unterliegen: immer wieder gilt es den Schrecken, den Terror beschreiben, der immer wieder stattfindet – aber immer wieder auch die Liebe zum Land und damit das Land verteidigen zu müssen, das diese Liebe beständig auf den Prüfstand stellt. Wie geht es SAID in dieser Rolle?

SAID: Er reibt sich auf, manchmal. Zunächst mal: Ich bin nicht verbittert. Ich trage oft Trauer, und ich meine, die, die keine Trauer tragen wollen, die werden mal verbittert. Ich verneine und verleugne dieses Land nicht, ich verneine oder verleugne meine Freunde nicht. Ich trage das mit mir, ohne das abzulegen.

Ich kann ja nicht sagen: jetzt bin ich in Europa, jetzt habe ich einen deutschen Pass – vergessen wir all das, was vergangen ist. Das wäre eine postkoloniale Haltung. Wenn man alles mit sich trägt, dann trägt man auch die Trauer mit sich. Ich weiß, dass in postkolonialen Zeiten dieser Begriff sehr unpopulär geworden ist. Aber ich hoffe, dass ich das bis zum Ende meines Lebens tun kann. Denn mich verneinen oder verleugnen, das will ich um keinen Preis.

Gibt es nicht manchmal eine Art Ermüdung daran, dass der Westen Sie gerne befragt, um den Iran erklärt zu bekommen?

SAID: Ich versuche die Rolle abzulehnen, indem ich durch Erzählungen oder durch Wiedergabe der Fakten die Rolle des Erklärers abstreife. In dem neuen Buch habe ich Nachrichten praktisch nackt wieder gegeben, die der iranischen und der deutschen Presse entnommen sind. Damit hoffe ich, dass ich Bruchstellen offenbare. Tue ich das, dann brauche ich die erklärende Rolle nicht.

Die erstens undankbar ist. Zweitens: Ich habe gelernt, dass man damit nicht weiter kommt. Denn wenn die Vorurteile so alt sind und der Beschluss mal gefasst ist, wir im Westen sind alle Demokraten, Aufklärer, wir haben Menschenrechte, und die da unten haben nichts – dann kann man nichts erklären. Ich kann lediglich das Material liefern.

Liebe, so schreiben Sie im neuen Band, bedeutet, auch die Bruchstellen noch mit in die Beziehung zu nehmen. Ist der Iran in diesem Sinne noch eine Geliebte?

SAID: Sagen wir so: Das Land ist eine Geliebte, sicherlich. Aber das ist, wie ich oft geschrieben habe, eine Jugendliebe, die inzwischen zu einer öffentlichen Dame geworden ist. Darunter leidet man. Im Grunde genommen leidet man unter seinen eigenen Erinnerungen und unter seinen eigenen Bildern.

Das Land leidet nicht, das Land entwickelt sich – ob es mir gefällt oder nicht. Gewiss ist das Land heute nicht mehr vergleichbar mit dem Land vor 20 oder 40 Jahren. Gewiss ist es so, dass die gesellschaftliche Entwicklung – ich sage gar nichts von den politischen Verhältnissen – die Rückkehr in den Schoß dieser Geliebten eigentlich unmöglich macht. Aber das Bild bleibt. Man kann ja das Bild nicht abstreifen. Bilder, die ich von meiner Kindheit habe, Bilder, die ich von meiner Jugend habe.

Ein ganz banales Beispiel: Einige meiner Freunde dürfen nach Teheran zurück und sagen mir dann: Du kannst in Teheran nicht mehr leben, weil du nicht mehr dort spazieren gehen kannst. Niemand kann dort mehr spazieren - es ist eine amerikanisierte Welt, wo man mit Autos fährt und hupt, und alle haben es eilig. Das ist ein ganz banales Beispiel – aber ich habe Teheran immer geliebt durch meine Spaziergänge. Wenn das nicht mehr möglich ist, dann ist der Zugang zu dieser Geliebten versperrt.

Das aber ist letztendlich die Tragödie eines jeden Emigranten: Der Emigrant hat eine Art Vaterland im Kopf, und dieses Bild ist statisch. Die Realität ist eine andere. Wenn der Emigrant zurückkehrt, prallen diese Ebenen aufeinander. Ich muss nicht betonen, wer auf der Strecke bleibt.

'Liebe' ist überhaupt ein Kernbegriff in Ihren Büchern – es ist auch der Kernbegriff der Religion, um dessen Substanz das neue Buch sich dreht. Gibt es Ihrer Meinung nach heute eher ein Zuwenig oder ein Zuviel an Religion?

SAID: Ich würde sagen, es gibt ein Zuwenig an Religiosität. Mir geht es ja um das Gefühl, um die ergriffene Haltung. Mir geht es nicht um ein Gebäude, um eine Moschee, oder eine Kirche. Mir geht es auch nicht um das tägliche Ausüben von Praktiken einer Religion, welche auch immer. Mir geht es um die ergriffene Haltung. Und die verschwindet, natürlich, immer wieder. Beziehungsweise sie kommt durch die Hintertür immer wieder.

Bedenken Sie den Papst-Besuch in Köln, an die unglaubliche Menge junger Leute, die dorthin gefahren sind, und bedenken Sie, dass diese jungen Leute teilweise laut vor Kameras gesagt haben, dass sie Pariser nehmen beim Geschlechtsakt, obwohl der Papst das verboten hat. Aber sie sahen keinen Widerspruch darin, dorthin zu pilgern – und diesen Satz zu sagen.

Das ist ein Beweis für meine These, dass die Religiosität jenseits von Kardinälen, Bischöfen und Mullahs besteht. Und dass die Menschen das brauchen, Religiosität.

Wie nahe, wie fern sind sich Christentum und Islam – und damit der Islam und der Westen?

SAID: Das ist wie alles andere in der Frage der Religion eine Interpretationsfrage. Ein banales Beispiel: Als Ayatollah Chomeini den indisch-britischen Schriftsteller mit der Fatwa belegte, hat der Präsident der Al-Azhar-Universität in Kairo, die älteste Universität in der islamischen Welt, sich davon distanziert. Beide sind Moslems!

Wenn ich den Islam interpretiere, dann habe ich kein Problem bei der Berührung mit dem Christentum. Bedenken Sie, dass der vorige Papst in Syrien gemeinsam mit dem großen Mullah von Syrien in eine Moschee gegangen ist. Bedenken Sie, dass in Indonesien heute noch Muslime und Christen gemeinsam beten, nach all dem, was geschehen ist. Das ist immer möglich.

Der wild gewordene Islam – den muss man politisch behandeln, nicht theologisch. Seit Verhandlungen zwischen Israel und Palästina laufen, sind die Anschläge weniger geworden. Der Palästinenser an sich ist ja kein wild gewordenes Tier. Der Islam an sich ist ja nicht per se anti-semitisch oder anti-christlich.

Ist aber nicht auch der Westen ein wild gewordenes Tier?

SAID: Der Westen ist wild auf seine sanfte Art, das hat der Westen immer gut verstanden. Ich stelle immer wieder fest, dass der Westen einen Dialog sucht - ohne die Bereitschaft zuzuhören. Daher sage ich ja auch im neuen Buch: ein Dialog bedeutet, dass ich meine eigene Schwäche zeige. Vom hohen Ross herunter läuft kein Dialog.

Ich erinnere mich an den Werbe-Slogan einer amerikanischen Pharma-Firma: 'Wir haben die Medikamente, die im Süden die Krankheiten'. Das ist das Problem. Und das muss man angehen. Ob der Westen das je begreift, weiß ich nicht. Und mit Bomben kann man den Westen natürlich nicht aufwecken.

Wie erleben Sie das wachsende Interesse, den der Iran im Westen erlebt? Hier sei nur verwiesen auf Autoren wie Navid Kermani oder den Comic-Band Persepolis, oder Lolita lesen in Teheran von Azar Nafisi.

SAID: Ich freue mich darüber. Ich weiß ja, dass der Iran mehr zu bieten hat als ein paar Bombenwerfer, ein paar Killer und ein paar Hassprediger. Ich habe in all meinen Büchern versucht darzustellen, das dort eine blühende literarische Landschaft – gemessen an dem, was dort passiert – existiert. "Der lange Arm der Mullahs" besteht ja eigentlich nur aus solchen Nachrichten: dass Günter Grass erschienen ist. Dass Hans Magnus Enzensberger erschienen ist.

Dieses Land ist literarisch und kulturell nicht tot. Wir sind nicht im 18. Jahrhundert, und das Land war immer offen nach außen, vor allem nach Westen. Und vielleicht begreift hier nun jeder Bürger, dass dieses Land auch Comiczeichner hat, Autoren hat, rege kulturelle Gespräche führt, und nicht nur aus Bombenlegern – und Opfern besteht.

Bis zum heutigen Tag fragen mich Leute auf den Lesungen, ob die iranischen Frauen zur Universität gehen können. Der Witz ist: 70 Prozent der iranischen Studenten sind Frauen. Und das steht in den deutschen Zeitungen!

Interview: Claudia Kramatschek

© Qantara.de 2005

SAID: Ich und der Islam. Verlag C.H.Beck 2005. 168 Seiten. EUR 14.90

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Buchtipp
Erinnerungen aus dem Exil
In seinem neuen Buch "In Deutschland leben" beschreibt SAID, iranischer Lyriker und ehemaliger Präsident des PEN-Zentrums, seine persönlichen Eindrücke über das gesellschaftliche und politische Leben in Deutschland. Gleichzeitig nimmt er Stellung zum problematischen Verhältnis zwischen islamischer Welt und dem Westen.

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