In Deutschland noch immer ein Tabuthema

Nach UN-Studien werden jedes Jahr über eine Million Menschen gewaltsam zur Ehe gezwungen. Die in Berlin lebende Rechtsanwältin Seyran Ates kämpft seit Jahren dafür, dass die Zwangsverheiratung in der deutschen Öffentlichkeit stärker wahrgenommen wird. Ein Bericht von Sigrid Dethloff

Frau in Kreuzberg, Foto: Bilderbox
Frau in Kreuzberg

​​Es sind vor allem die weiblichen Opfer von Zwangsverheiratungen, die oft ihre Schulausbildung nicht beenden dürfen, in vielen Fällen werden sie sexuell ausgebeutet und sind finanziell vom Ehemann abhängig. Im Menschenrechtsabkommen der Vereinten Nationen ist die freie Wahl des Ehepartners allerdings festgeschrieben.

Trotzdem ist Zwangsverheiratung in Deutschland immer noch ein Tabuthema. Zahlenmäßig überwiegen unter den Betroffenen Türkinnen und Kurdinnen, weil sie die größte Immigrantengruppe im Land bilden. Betroffen sind aber auch viele Libanesinnen, Marokkanerinnen, Tunesierinnen, Albanerinnen, Iranerinnen oder auch Inderinnen.

Sorgerecht beim Berliner Jugendamt

Sultana (Name geändert) aus Afghanistan war noch keine 15 Jahre alt, als sie durch einen Sprung vom Balkon aus dem ersten Stock ihrer Elternwohnung das Weite suchte. Das Mädchen wollte auf keinen Fall mit nach Afghanistan zurückkehren und dort einen Cousin heiraten, der offenkundig für sie ausgesucht worden war. Dessen Mutter hatte schon seit einiger Zeit Kleider nach Berlin geschickt, in ihrer Kultur ein klares Zeichen, wie Sultana erklärt.

In einem Aufsehen erregenden Prozess im Dezember 2002 erreichte Sultana, dass den Eltern das Sorgerecht entzogen wurde. Heute lebt sie unter der Vormundschaft des Berliner Jugendamtes. Sultanas größte Sorge gilt dem Stichtag ihres achtzehnten Geburtstages in anderthalb Jahren. Was wird geschehen, wenn sie volljährig ist und der Schutz des Jugendamtes erlischt? Die Berliner Anwältin Seyran Ates hat von ihrem Fall gehört und will sie beraten.

Für die türkischstämmige Frauenrechtlerin und Rechtsanwältin gehört Zwangsverheiratung zum Arbeitsalltag. Nahezu jede dritte Mandantin in ihrer Berliner Kanzlei ist davon betroffen. Seyran Ates‘ berufliche Erfahrungswerte decken sich auch mit einer 1996 in Berlin durchgeführten repräsentativen Umfrage, die unter türkischen Immigrantinnen durchgeführt wurde.

Istanbul ist nicht weniger Weltstadt als Berlin

Nach der Studie war die Heirat bei 28,3 Prozent der untersuchten Fälle gegen den Willen der Frau durchgesetzt worden. Seyran Ates selber konnte diesem Schicksal als Jugendliche entgehen – auch sie ist aus ihrer Familie geflohen. Im Alter von sechs Jahren als Gastarbeiterkind nach Berlin-Kreuzberg gekommen und dort aufgewachsen, überkommt sie heute fast immer ein beklemmendes Gefühl, wenn sie in ihrem alten Stadtteil unterwegs ist, der im Volksmund wegen des hohen türkischen Bevölkerungsanteils auch "Little Istanbul" genannt wird. Zu Unrecht, wie sie findet.

"Ich bin in Istanbul geboren, es ist eine Weltstadt", sagt Seyran Ates. Kreuzberg sei jedoch das Gegenteil davon. "Dort haben sich türkische Familien in ihrer Immigration konserviert, die sie vor vierzig Jahren begonnen haben." Der Schein trügt oft, so Ates. Auch wenn auf der Straße "sehr modern aussehende, auch sehr sexy wirkende Frauen" zu sehen seien – so lebten viele von ihnen in extrem traditionellen Umständen. Hinter vielen Häuserfassaden gelten Menschrechte für Frauen so gut wie überhaupt nicht.

Krank vor Angst und Unterdrückung

Viele der Frauen, die man hier zur Zwangsehe gezwungen hat, werden sexuell genötigt und nicht selten auch schwer misshandelt .Viele fügen sich in ihr Schicksal aus Hilflosigkeit oder aus Solidarität mit ihren Müttern und Schwestern. Sie haben Angst vor dem Verlust der Familie, vor den Aggressionen des Vaters und der männlichen Verwandten. Unterdrückung, sexuelle Übergriffe und Gewalt führen nicht selten zu schweren körperlichen und seelischen Erkrankungen. Oft sind die Frauen vollkommen am Ende, wenn sie den Weg in die Kanzlei von Seyran Ates gefunden haben.

Sie wollen die Scheidung. Aber auch die Anwältin und ihre beiden Kolleginnen müssen oft lange und behutsam nachfragen, bis das Wort "Zwangsverheiratung" fällt. Die Scham ist groß. Seyran Ates will helfen, "nur können wir diese Zwangsheirat juristisch nicht mehr thematisieren, weil meist die Frist abgelaufen ist für die Annullierung einer solchen Zwangsehe." Die Frauen hätten ein Jahr lang das Recht, die ungewollte Heirat rückgängig zu machen – doch die meisten wüssten das nicht oder zögerten zu lange. "Ich wünsche mir, dass die Fristen für die Frauen verlängert werden", sagt Seyran Ates.

Koran betont die Freiwilligkeit beider Partner

Zwangsheiraten finden nach Meinung von Experten zu 90 Prozent in Kulturen mit fundamentalistisch-islamischem Hintergrund statt. Dafür gibt es im Koran allerdings keine Grundlage. Ausdrücklich wird dort die Freiwilligkeit für beide Partner betont.

Doch für viele ihrer Landsleute gilt, so Seyran Ates, das Wort des Hodschas bzw. Imams. Er segne das Recht von Familien ab, ihre Kinder nach ihren Wünschen zu verheiraten. Und er beanspruche für sich, Ehen nach islamischem Recht schließen zu können. Im Islam gibt es keine übergeordnete Kirche, die die Hodschas und Imame kontrolliert. Doch in Deutschland schaue der Staat zu oft weg, klagt Seyran Ates. Dabei sei es höchste Zeit, den selbst ernannten Predigern ihre Macht zu nehmen, denn Frauen haben in deren Domäne so gut wie keinen Stellenwert.

Sigrid Dethloff

© Qantara.de 2004