Eine historische Chance zum Aufstieg

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 konnten die gemäßigten islamistischen Gruppen einen Aufschwung verzeichnen, indem sie den Westen zwangen, zwischen moderaten und radikalen Islamisten zu unterscheiden. Eine Analyse von Slaheddine Jourchi

Anhängerin von Hamas; Foto: AP
Die Islamisten konnten von den Anschlägen auf das WTO auf eine Art und Weise profitieren, wie es viele Fachleute nicht erwartet hatten, so Slaheddine Jourchi

​​Die Anschläge des 11. September 2001 hatten sich nicht nur gegen die USA gerichtet, sie waren auch eine deutliche Botschaft an diejenigen islamistischen Bewegungen, die nicht an den Einsatz von Gewalt glaubten, sondern stattdessen an ihrem moderaten Reformkurs festhielten.

Mit anderen Worten: Das Jahr 2001 steht für die Trennung zweier grundsätzlich verschiedener Strategien innerhalb der islamistischen Bewegung, auch wenn ihre jeweiligen Anhänger einige Ziele und religiöse Grundsätze teilen.

Es war so gesehen auch kein Zufall oder reine Taktik, dass einige Führungen der politisch-islamischen Bewegung sich beeilten, die Anschläge vom September 2001, zu denen sich Al-Qaida bekannt hatte, zu verurteilen und sich klar von ihnen zu distanzieren.

Dass man die Anschläge mit dem Islam und den Islamisten in Verbindung brachte, hätte fast eine globale Auseinandersetzung zwischen dem Westen und den Muslimen provoziert, was wiederum die Erfolge dieser Bewegungen in unterschiedlichen Ländern zunichte gemacht hätte.

Nutznießer der Anschläge

Nach dem 11. September befürchteten die als gemäßigt geltenden islamischen Gruppierungen, in eine Auseinandersetzung hineingezogen zu werden, die sie weder gewählt noch für die sie bereit waren. Sie konnten aber von den Anschlägen auf eine Art und Weise profitieren, wie es viele Fachleute, die schon das Ende des Projekts "Politischer Islam" verkündet hatten – unter ihnen auch viele westliche Experten - nicht erwartet hatten.

Sie traten mit der Forderung an den Westen heran, zwischen den verschiedenen islamistischen Gruppierungen zu differenzieren und den Angriff al-Qaidas nicht als Rechtfertigung zu verstehen, eine historische Rechnung mit dem Islam zu begleichen.

Diese Forderung fand auch im Westen ihr Echo, westliche Intellektuelle, Experten und Politiker warnten vor den Gefahren einer Verallgemeinerung; einige, insbesondere die den amerikanischen Entscheidungszentren nahe stehenden, waren der Meinung, dass al- Qaida aufgrund sicherheitspolitischer Interessen isoliert werden müsse.

Gleichzeitig zur "Initiative des größeren Mittleren Ostens" (Greater Middle East Initiative), den die amerikanische Führung unter dem Vorwand "der Verbreitung der Demokratie in der Region und der politischen Neuordnung" vorlegte, wurden detaillierte Studien und Vorschläge ausgearbeitet, wie die Kluft zwischen al-Qaida und den gemäßigten Gruppen vergrößert werden könne.

Moderate Islamisten als legitime Opposition?

Obwohl diese Gruppen die amerikanische Politik gegenüber Irak, Palästina und Afghanistan kritisierten, versuchten sie doch von der neuen amerikanischen und europäischen Politik zu profitieren, indem sie den internationalen Druck auf die arabischen Regime nutzten, um mehr Einfluss zu gewinnen und die Weltöffentlichkeit dazu zu bringen, sie als maßgebliche politische Akteure anzuerkennen.

Damit stellten sie alle Beteiligten, besonders aber die amerikanische Führung, vor zwei Alternativen: Entweder sollten die USA sie akzeptieren und in den Demokratisierungsprozess einbinden, anderenfalls würden sie den Weg von al-Qaida einschlagen, nämlich den der Gewalt.

Mit anderen Worten: Diese Bewegungen haben die Strategie Al-Qaidas, die darin besteht, die gemäßigten Gruppierungen gegen alle Regierungen der Welt aufzuhetzen, in ein effektives Mittel zur Bestätigung ihrer eigenen Legitimität umgewandelt.

Dadurch konnten sie unerwartete politische Erfolge erzielen, die man wie folgt zusammenfassen kann:

Islamisten kontra arabische Regime

Erstens: Der Westen wurde gezwungen, im Rahmen der Definition seiner eigenen Interessen, zwischen "gemäßigten" und "radikalen" Islamisten zu differenzieren, statt von einem Konfrontationsszenario mit allen Islamisten auszugehen.

Zweitens: Die arabischen Regime, die geglaubt hatten, die Angriffe des 11. September würden ihnen die Möglichkeit geben, die lokalen islamistischen Bewegungen in ihren Ländern endgültig auszuschalten, haben ihre Chance vertan.

Sie hatten versucht, den Westen davon zu überzeugen, dass jeder Islamist ein Terrorist sei und dass die Mäßigung, die einige von ihnen an den Tag legen, reines Täuschungsmanöver ist. Doch sie konnten den Westen nicht dazu bringen, Maßnahmen zur völligen Auslöschung der Islamisten zu ergreifen.

Drittens: Die islamistischen Bewegungen nutzten das Zögern der Regime und die ihnen gewährten Freiheiten, um politischen Gewinn durch die Teilnahme an Wahlen zu erzielen. Statt sich also im politischen Niedergang zu befinden, wie es westliche und arabische Experten erwartet hatten, geben die neuesten politischen Entwicklungen dem politischen Islam die historische Chance zum Aufstieg in noch nie da gewesenem Ausmaß.

Genau dies ist unter anderem in Marokko, Algerien, Ägypten, Palästina, Irak, Bahrain und Jordanien geschehen.

Moderate kontra Radikale

Die Führung von Al-Qaida weigert sich allerdings bisher, diese neue Realität anzuerkennen, sie hält an ihrer ursprünglichen Strategie fest.

So versucht Aiman Al-Sawahiri, Bin Ladens Stellvertreter, durch seine Videobotschaften über politische Ereignisse, sich in die Angelegenheiten der islamischen Bewegungen einzumischen, um "ihre falschen Standpunkte und ihre falsche Politik zu korrigieren". Anderenfalls, so droht er, werde er alles, was seinen Ansichten und Plänen zuwiderlaufe, zerstören.

Im Irak, wo die Gruppe um al-Sarqawi schon früher versucht hat, alle Anstrengungen zur Unterstützung des politischen Prozesses zum scheitern zu bringen, wird dies sehr deutlich. Ebenso ist al-Qaida darum bemüht, auf die Ereignisse in Palästina Einfluss zu nehmen.

Dem war die beinahe geglückte Torpedierung des politischen Reformprozesses in Marokko durch die Anschläge in Casablanca vorausgegangen, für den die beiden Flügel der islamistischen Bewegung in Marokko beinahe einen hohen Preis gezahlt hätten.

Ebenso hat die "Kämpfende Salafistische Gruppe" in Algerien versucht, die Entwaffnung aller Kämpfer in Algerien zu verhindern, um die Politik der "Zivilen Eintracht" zum Scheitern zu bringen.

In denselben Kontext fallen auch die Stürmung von Häusern in Kuwait und die Verhaftung von Extremisten, die zahlreiche Sicherheitsbeamte getötet hatten.

Auch die "Front der islamischen Aktion in Jordanien" geriet in die Zwickmühle, als eine zu Al-Qaida gehörende Gruppe einen Selbstmordanschlag in der Innenstadt von Amman verübte, ebenso, als einige Mitglieder der Gruppe auf der Beerdigung al-Sarqawis auftauchten und einer der ihren al-Sarqawi als Märtyrer bezeichnete.

Bislang keine offene Konfrontation

Die Trennlinie zwischen den moderaten und den radikalen Islamisten ist also eindeutig, das hat sich schon bei zahlreichen Gelegenheiten gezeigt, besonders nach den Terroranschlägen in europäischen Hauptstädten.

Diese Anschläge, die den islamischen Minderheiten und dem Islam insgesamt schweren Schaden zufügten, verursachten auch für die Islamisten, die seit vielen Jahren in Europa leben oder dort politisches Asyl genießen, Probleme.

Doch trotz dieser Differenzierung im Diskurs und trotz der Kritik der Gruppen des "Mittelwegs" an den Radikalen, meiden diese noch immer die entscheidende Auseinandersetzung mit den salafistisch-dschihadistischen Gruppen.

Lässt sich dies auf geistliche und juristische Rücksichtnahme zurückführen oder liegt es an der Angst, dass diesen Gruppen vorgeworfen wird, sie hätten genau das erreicht, was die amerikanische Außenpolitik bisher nicht geschafft hat?

Die Antwort darauf bedarf reichlicher Überlegung, aber die Konfrontation zwischen den beiden Gruppierungen hängt möglicherweise davon ab, welchen Einfluss die radikalen Salafisten in der arabischen Welt haben werden.

Slaheddine Jourchi

© Qantara.de 2006

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