Tabuisierung der Minderheitenfrage

In der Türkei reißt die Welle von Klagen wegen "Herabwürdigung des Türkentums" nicht ab. Nach dem Fall Pamuk stehen nun auch zwei Regierungsberater wegen ihres Berichtes zur Minderheitenfrage vor Gericht. Von Günter Seufert

Die Welle von Klagen gegen türkische Intellektuelle wegen angeblicher Volksverhetzung und Herabwürdigung des Türkentums reißt nicht ab. Nach dem Fall Pamuk müssen sich jetzt auch zwei Regierungsberater wegen ihres kritischen Berichtes zur Minderheitenfrage vor Gericht verantworten. Von Günter Seufert

Angeklagt - der renommierte türkische Schriftsteller Orhan Pamuk mußte sich im Dezember 2005 vor einem Gericht in Istanbul verantworten, Foto: AP
Mit ihrer Anklage gegen Pamuk wegen 'öffentlicher Herabsetzung des Türkentums' setzten die Justizbehörden bereits im Dezember 2005 ein deutliches Signal - weitere Anklagen gegen Journalisten und Professoren folgten

​​Am 3. Oktober letzten Jahres begannen die direkten Beitrittsverhandlungen Ankaras mit der Europäischen Union.

Doch obwohl die EU die Meinungsfreiheit in der Türkei als Prüfstein für den Beitritt betrachtet, finden in der Türkei immer noch politische Prozesse statt, ihre Zahl nimmt sogar weiter zu.

Die größte Aufmerksamkeit fand im vergangenen Dezember das Verfahren gegen Orhan Pamuk, den heute bekanntesten Schriftsteller des Landes, das im Januar schließlich eingestellt wurde. Zuvor war bereits der Herausgeber der armenischen Wochenzeitung Agos, Hrant Dink, angeklagt worden.

Meinungs- und Pressefreiheit im Visier

Anfang Februar dieses Jahres kam es dann in Istanbul zur Verhandlung gegen fünf türkische Journalisten, die sich wegen ihres Engagements für eine Konferenz zu den Massakern an den Armeniern zwischen 1915 und 1917 rechtfertigen mussten.

Und in der vergangenen Woche wurde in Ankara den beiden Professoren Ibrahim Kaboglu und Baskin Oran der Prozess gemacht. Als Mitglieder eines der Regierung zugeordneten Beraterausschusses zu Menschenrechtsfragen hatten sie vor zwei Jahren einen Bericht zur Minderheitenfrage verfasst.

Darin forderten sie mehr Rechte für die Minderheiten und regten ein neues Staatsbürgerverständnis an. Sechzig weitere politische Verfahren dauern bis heute an.

Eröffnet werden die Prozesse aufgrund von häufig beliebig auslegbaren Paragraphen des neuen türkischen Strafgesetzes, das im Juni 2004 in Kraft trat. Der Staatsanwalt und den Gerichten gibt das Gesetz weitgehend freie Hand, den Bürgern hingegen lässt es über Erlaubtes und Verbotenes weitgehend im Unklaren.

Die Verabschiedung des neuen Strafrechts war einer der Bedingungen der Europäischen Union für die Aufnahme der Beitrittsgespräche. Noch während der Beratungen verwiesen Menschenrechtler auf die Fallstricke des neuen Rechts, doch deren Warnungen stießen in Brüssel überwiegend auf taube Ohren.

Vier Straftatbestände

Vor allem vier Straftatbestände werden in den derzeitigen politischen Verfahren angeführt: Erstens, die Beleidigung des Türkentums (Pamuk und Dink), zweitens, die Beleidigung des Staates bzw. einzelner Staatsorgane (zweiter Prozess gegen Pamuk sowie gegen Kaboglu und Oran), drittens, die Beeinflussung der Rechtsprechung (Prozesse gegen vier liberale Journalisten) sowie viertens, die Aufwiegelung der Bevölkerung zu Feindseligkeit und Hass.

Der jüngste Prozess gegen die Professoren zeigt, wie die letzte Vorschrift angewendet wird und führt gleichzeitig das System der politischen Justiz deutlich vor Augen. Das Verfahren beleuchtet zudem schlaglichtartig die Rolle der Religion in einem nur äußerlich laizistischen Land.

Auf Drängen der EU im April 2001 schuf die Erdogan-Vorgängerregierung einen "Konsultationsrat Menschenrechte beim Amte des Ministerpräsidenten". Akademiker und Verwaltunsgbeamte sollten mit Vertretern von NGOs gemeinsame Reformvorstellungen entwickeln.

Mehr als drei Jahre später, die Politik hatte das Gremium längst vergessen, legte die "Arbeitsgruppe kulturelle Rechte und Minderheitenrechte" des Rates das Ergebnis ihrer Arbeit vor - und löste damit einen Aufschrei aus.

In seinem Rapport rief der Verfasser des Berichts, Baskin Oran, Professor für Politikwissenschaft in Ankara, zum Schutz und zur Anerkennung von sprachlichen und religiösen Minderheiten in der Türkei auf, statt deren Existenz weiter zu leugnen und allen Bürgern die offizielle türkisch-sunnitische Identität aufzudrängen.

Außerdem verlangte er eine Förderung von Minderheitensprachen und warnte gleichzeitig davor, diese auszugrenzen sowie unüberwindbare Hürden für den Bau ihrer Gebets- und Gotteshäuser zu errichten. Ibrahim Kaboglu, Professor für Verfassungsrecht in Istanbul, verteidigte als Vorsitzender des Gremiums den Bericht zur Minderheitenfrage.

Jetzt stehen die beiden Professoren vor Gericht. "Unter Verweis auf unterschiedliche soziale Klassen, Volksgruppen, Religionen, Konfessionen und Regionen" hätten sie "das Volk zu gegenseitigem Hass und Feindschaft" aufgehetzt.

"Originäre" und "sekundäre" türkische Bürger

Tatsächlich riskiert jeder abgestraft zu werden, der sich im Namen einer anderen als der türkischen Identität politisch zu Wort meldet. Als Minderheiten anerkannt sind nur die nichtmuslimischen Gemeinden der Christen und der Juden. Der Vertrag von Lausanne, die internationale Gründungsurkunde der Republik, verpflichtete die Türkei zu diesem Zugeständnis.

Doch zahlen die Nichtmuslime für diese Anerkennung einen hohen Preis: Sie sind nicht wirklich Staatsbürger erster Klasse. Urteile höchster Gerichte bezeichneten sie wiederholt als "Ausländer" und beschnitten die Eigentums- und Verfügungsrechte ihrer Kirchenstiftungen. Und auch die Anklageschrift gegen die beiden Professoren trennt zwischen "originären" und "sekundären" Mitgliedern der türkischen Nation.

"Originäre" Mitglieder sind demnach ausschließlich die Muslime, und das Wort "Minderheit" hat einen stark abwertenden Klang. Kein Wunder, dass Sprecher der Alewiten, die ebenfalls Muslime sind, ihre Einstufung als "religiöse Minderheit" seitens der EU zurückgewiesen haben.

Für den Staat ist der Islam ein wesentliches Element des Türkentums, in diesem Punkt treffen sich die Kurden mit den Türken. Im öffentlichen Leben soll der Islam dagegen keine Rolle spielen, was in der Türkei sogar strenger gehandhabt wird als in den Ländern der EU. In der vergangenen Woche machte der Staatsgerichtshof eine laizistische Lebensführung gar zur Voraussetzung für eine Karriere im Staatsdienst.

Tatsächlich geht die Tabuisierung der Minderheitenfrage Hand in Hand mit der Instrumentalisierung des Islams durch den Staat. In beiden Fällen definiert der Staat Identitäten und legt dem Bürger nahe, wie er sie leben soll.

Günter Seufert

© Qantara.de 2006

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