Schuld ohne Sühne

In seinem neuen Roman stellt Atiq Rahimi die Frage nach dem "gerechten" Mord. Ist in einer von Terror, Rechtsunsicherheit und täglichem Überlebenskampf geprägten Welt Selbstjustiz eine legitime Form des Widerstands? Zur Erörterung dieser Frage in Romanform genügen dem Autor knapp 300 Seiten. Von Volker Kaminski

By Volker Kaminski

Den Schauplatz bildet die kriegszerstörte afghanische Hauptstadt Anfang der 1990er Jahre nach dem Rückzug der sowjetischen Invasionstruppen. In Kabul herrscht Bürgerkrieg, Warlords der Mudschahedin und pro-sowjetische Kräfte konkurrieren miteinander um die Vorherrschaft. Ein normales Leben ist kaum möglich, Bombenattentate sind an der Tagesordnung genauso wie willkürliche Verhaftungen.

In dieser politisch unübersichtlichen Lage begeht Rassul, ein ehemaliger Jurastudent, einen brutalen Mord. Er erschlägt die Wucherin Nana Alia mit einer Axt, nachdem er vergeblich versucht hat, für sich und seine Familie eine Uhr zu beleihen. Rassul handelt jedoch nicht aus dem Affekt; er hat die Tat eiskalt geplant, trägt die Waffe unter seinem Gewand versteckt und ist nur gekommen, um die verhasste Frau zu töten.

Atiq Rahimi; Foto: DW
Der afghanische Schriftsteller Atiq Rahimi bekam für seinen dritten Roman "Stein der Geduld" den angesehenen Prix Goncourt verliehen.

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Der splatterhafte Romanauftakt, der den Leser mit den blutigen Details des Mords konfrontiert, ist indes ein kleines Täuschungsmanöver des Erzählers. Statt eine Krimi-Handlung einzuleiten, dient ihm die archaische Mordszene dazu, ohne Umschweife zum moralischen Kern seiner Geschichte vorzustoßen. Während Rassul die alte Frau tötet, kommt ihm ein literarisches Vorbild in den Sinn: Dostojewskis Roman "Verbrechen und Strafe", den er mit Begeisterung während seines Studiums gelesen hat. Diese Gedankenassoziation hält Rassul zwar nicht vom Töten ab, macht ihm aber blitzartig bewusst, dass es ihm genauso ergehen wird wie Dostojewskis Hauptfigur Raskolnikow – Schmuck und Geld seines Opfers werden ihm nichts nützen, sein Gewissen wird ihn quälen, bis er sich der Polizei stellt und vor einen Richter tritt.

Kein Scheitern an Dostojewski

Mit diesem Kunstgriff sprengt Rahimi grandios den Rahmen einer begrenzten Mordgeschichte. Zwar beschreibt der Roman vordergründig das verzweifelte Umherirren eines wankelmütigen Mörders, der mit seiner Schuld nicht leben kann und in der vom Bürgerkrieg zerrissenen Stadt keinen Richter findet. Doch durch den kongenialen Rückgriff auf Dostojewskis Roman tritt die viel allgemeinere Frage nach Recht und Bestrafung in den Mittelpunkt.

Rahimi gelingt es allein mit den Mitteln der Literatur politisch brisante Grundsatzfragen zu stellen, die auch das heutige Afghanistan betreffen; unweigerlich stellt sich beim Lesen die Frage, ob sich seit dem Ende der Taliban-Herrschaft im Jahr 2001 die Rechtslage in Afghanistan verbessert hat und der Schutz von Frauenrechten vorangetrieben wurde. Wenn ein Mudschahedinführer im Roman Rassuls Tat voller Überzeugung als "gerechte Handlung" bezeichnet, weil die Getötete eine entehrte Frau gewesen sei, die den Tod verdient habe, denkt der Leser zwangsläufig an jüngste Aussagen politisch Verantwortlicher aus Afghanistan zu der Frage nach Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Man könnte auch an den jüngsten Bericht des "Human Rights Watch" denken, der zu einem deprimierenden Fazit bezüglich verurteilter Frauen im heutigen afghanischen Strafvollzug kommt.

Dass Rahimis Roman andererseits nicht an dem übermächtigen Vorbild Dostojewski scheitert und durch seine moralische Intention zu einem trockenen Thesenroman wird, verdankt sich in erster Linie dem stilistischen Können dieses Ausnahmeautors.

Filmische Szenen

Wie in seinem Vorgängerroman, dem preisgekrönten "Stein der Geduld" (2009), sind die einzelnen Szenen filmisch genau geschnitten, die Sprache glasklar und schnörkellos.

Buchtitel
Trotz der Ernsthaftigkeit des Romanthemas bewahrt sich der Erzähler ein ironisches Augenzwinkern und menschliche Wärme.

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Rassuls Gewissensqualen und seine unablässigen Versuche die Schuld zu sühnen, bewirken ein hohes Erzähltempo und zugleich eine eigenartige Verwischung der von Terror und Angst beherrschten Szenerie. Trotz der präzisen Sprache des Erzählers bleibt die Außenwelt seltsam unscharf; kein Gebäude, das Rassul betritt, gewinnt Kontur, die Menschen, denen er begegnet, wirken schemenhaft; seine Geliebte verbirgt sich unter einem blauen Tschadori, der immer wieder im Roman aufblitzt und dem Rassul durch die Straßen folgt wie einem märchenhaften Hoffnungsschimmer. Die gesamte Romanwelt erscheint wie vom Dunst der Haschischwolken umweht, in die Rassul in den Teestuben Kabuls des Öfteren eingehüllt wird.

Dieser Gegensatz zwischen sprachlicher Exaktheit und bildlicher Unschärfe macht einen besonderen Reiz des Romans aus. Rassuls moralischer Rigorismus wird geschickt gebrochen durch den genau beobachtenden und kritisch hinterfragenden Erzähler. Genau diese sprachlich reizvolle Doppelbödigkeit sorgt auch dafür, dass die Beschränkung des Autors auf ein im Grunde abstraktes Problem – die Frage nach der Gerechtigkeit – sich als roter Faden erweist, der aus dem inneren Chaos des Helden herausführt.

Ist Sühne in einem fundamentalistischen System möglich?

In seinem verzweifelten Anrennen gegen die moralische Ignoranz isoliert sich Rassul komplett von seiner Umwelt. Nach seinem Mord versagt ihm die Stimme und er kann über weite Strecken des Romans auf keine ihm gestellte Frage antworten. Weder seine Braut noch sein Cousin, die versuchen ihm beizustehen, lassen ihn auch nur einen Augenblick vergessen, dass er ein Mörder ist.

Doch wie soll er sühnen, in einem religiös-fundamentalistischen System, das von Gewalt und Willkür beherrscht wird und nur die ideologisch geprägte Unterscheidung zwischen Märtyrer und Ungläubiger kennt?

Als Rassul im halbzerstörten Gerichtsgebäude endlich vor einen Untersuchungsrichter tritt, wird er von diesem abgefertigt. Der Beamte erklärt ihm, was mit Dieben und Abtrünnigen nach dem Gesetz der Scharia geschieht. Rassul, der seine Stimme wiedergefunden hat, besteht darauf, er sei kein Dieb und Abtrünniger des Glaubens, doch da er in der Sowjetunion studiert hat, wird ihm automatisch unterstellt, er sei ein Kommunist. Trotz seines freimütigen Geständnisses bleibt der Richter stur, für den Mord an einer Frau gelte im islamischen Staat die "Blutpreisregel": Die Familie des Opfers bestimme den Preis und Rassul habe zu bezahlen.

Frau in Burka; Foto: AP
Der Roman spielt in Kabul nach dem Rückzug der sowjetischen Truppen: Warlords und pro-sowjetische Kräfte konkurrieren um die Macht, überlagert von Gewalt und Ungerechtigkeit.

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Es ist eine besondere Pointe des Romans deutlich zu machen, dass die Scharia dem Verbrechen Rassuls keine Gerechtigkeit widerfahren lässt und er nach der Rechtsprechung der Taliban für den Mord an der alten Frau nicht verurteilt werden kann.

Dass Rassul am Ende dennoch Bewegung in die verkrusteten Unrechts-Verhältnisse zu bringen vermag und sich fast ein Happy End andeutet, wirkt erstaunlich. Seine große Stärke bezieht der Roman jedoch aus seiner atmosphärischen Dichte. Wie Rassul durch düstere Gefängniszellen und ramponierte Gerichtsstuben irrt und am Ende in eine Art Schauprozess gerät, bei dem die Rechtsprechung hinter dem lauten Absingen von Koranversen zurücktritt, ist spannend zu lesen. Dabei spürt man trotz der ernsthaften Thematik ein ironisches Augenzwinkern des Autors, so dass der Roman von Witz und menschlicher Wärme erfüllt bleibt, obwohl er im Kern ein juristisches Problem behandelt.

Volker Kaminski

© Qantara.de 2012

Atiq Rahimi: Verflucht sei Dostojewski. Ullstein Verlag 2012.

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de